Das Geschenk der Sterne
einem schwarzen Ochsen reitend. Der Wächter des Passes an der Landesgrenze erkannte Lao Tse und bat ihn, eine Niederschrift seiner Weisheit für die zukünftigen Generationen anzufertigen. Lao Tse erfüllte diese Bitte und schrieb mit einem Pinsel die rund fünftausend Schriftzeichen, aus denen dieses Buch besteht. Nur fünftausend Schriftzeichen, gerade einmal einundachtzig Gedankengänge – und doch leisten sie in bewundernswerter Kürze das Beste, was Worte überhaupt leisten können: Weil sie aus dem Unsagbaren kommen, weisen sie den Weg ins Unsagbare, wo die tiefste Weisheit lebt. Nachdem Lao Tse dem Grenzwächter die erbetene Schrift gegeben hatte, setzte er seine Reise fort. Niemand weiß, wohin sie ihn führte. Seine Spur verlor sich im Nebel der Geschichte.«
»Ich würde gern die ersten Worte aus diesem Buch hören«, sagte Min Teng.
»Dann schlage es auf!« erwiderte Kun Liang.
Beschämt senkte Min Teng den Kopf. »Leider war es mir bislang nicht vergönnt, die Schriftzeichen zu erlernen.«
»Dann werde ich dir den ersten Spruch daraus vorlesen«,
entschied Kun Liang, nahm das Buch mit achtungsvollen Bewegungen in die Hand und las: »Das Tao, das man beschreiben kann, ist nicht das wirkliche Tao. Die Namen, die man vergeben kann, sind nicht die wahren Namen. Unbeschreiblich und namenlos sind Ursprung und Sinn allen Seins. Namen tragen nur die Dinge der Welt. Wer frei von Begehren ist, erkennt das Innere des Lebens und wird eins mit ihm. Wer von Verlangen getrieben ist, sieht nur das Äußere, und sein Weg endet an Grenzen, die keine Grenzen sind. Das Äußere und das Innere, scheinbar getrennt, sind eins in ihrem Wesen. Ihre Einheit ist tief verborgen im Tao. Wer sie erkennt, kann das Unergründliche ergründen.«
»Ich verstehe diese Worte – und verstehe sie nicht«, sagte Min Teng.
»Das in dir, was sie versteht, und das in dir, was sie nicht versteht, sind im Grunde eins«, erklärte Tschuang Tse. »Wenn du dies erkennst, wirst du Lao Tses Worte verstehen, ohne sie nicht zu verstehen.«
Diese Worte erschienen Min Teng noch rätselhafter als Lao Tses Gedanken, was ihm unschwer anzumerken war.
Kun Liang erbarmte sich Min Tengs Verwirrung und fragte ihn: »Was hast du denn verstanden?«
»Verstanden habe ich, daß Worte nicht genügen, um das Tao zu erklären, den Sinn und Ursprung allen Seins. Verstanden habe ich, daß Begehren die Wahrnehmung auf das Oberflächliche beschränkt und man deshalb frei von Begehren sein soll.«
»So ist es«, sagte Kun Liang. »Das Tao ist unbeschreiblich. Und wer etwas begehrt, wird gerade durch sein Verlangen daran gehindert, das Wesen dessen zu erkennen, was er begehrt. So wird ein Mann, der eine schöne Frau begehrt, nur ihren Körper sehen, jedoch nicht ihre Seele. Und ein Mann, der das Tao begehrt, wird nur die Erscheinungsformen des Tao erkennen, aber nicht sein Wesen. So widersprüchlich es auch klingen mag: Nur wer die Vereinigung mit dem Tao nicht begehrt, dem kann sie widerfahren. Und nun sage mir: Was hast du nicht verstanden?«
»Nicht verstanden habe ich, warum das Äußere und Innere in ihrem Wesen eins sind. Sind denn der Körper und die Seele einer schönen Frau eins? Sind denn die Erscheinungsformen und das Wesen des Tao eins? Und wenn es so ist, sollte es doch genügen, nur den Körper einer schönen Frau zu sehen, um auch ihre Seele zu sehen, weil ihr Körper eins mit ihrer Seele ist. Und es sollte genügen, die Erscheinungsformen des Tao zu erkennen, um sein Wesen zu erkennen, weil seine Erscheinungsformen eins mit seinem Wesen sind.«
Tschuang Tse lachte. »Wenn es so einfach wäre, wie der Verstand es gern hätte! Lao Tse mit dem Verstand verstehen zu wollen, hieße Wasser mit einem Sieb zu tragen. Um die Einheit des Äußeren und Inneren zu erkennen, muß man eins mit dem Tao sein, denn im Tao lösen sich alle scheinbaren Widersprüche auf. Um zu erkennen, daß ein großer Wald und seine Bäume eins sind, genügt es nicht, durch den Wald zu gehen. Man muß
auf dem Gipfel eines Berges stehen, sonst sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Aber man darf nicht begehren, auf diesen Gipfel zu gelangen, sonst erklimmt man bloß einen Maulwurfshügel. Nur eine Seele, die voller geduldiger, stiller Sehnsucht nach Weisheit ist, doch frei von unruhigem Begehren und Verlangen danach, kann den Gipfel der höchsten Einsicht besteigen.«
»Aber ist Sehnsucht nicht ein anderes Wort für Begehren?« fragte Min Teng.
»Nur auf den ersten
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