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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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beiden
Freunde über sie sprachen, begann es, in seinem Schlaf leise zu stöhnen, und sein Atem wurde schneller. Kun Liang beugte sich zu ihm und legte seine Hand behutsam auf seinen Kopf. Sofort hörte das Stöhnen des Mädchens auf, und seine Atmung wurde wieder ruhiger.

WORTE WIE STERNE UND MONDLICHT

    »Ach!« sagte Kun Liang und tippte mit den Fingerspitzen an seine Stirn. »In meiner Aufregung über den unerwarteten Abschied von Yu Lin habe ich vergessen, ihr mein Abschiedsgeschenk zu geben!« Er stand auf, ging ins Nebenzimmer und kehrte mit einem schmalen Buch zurück, das er auf den Tisch legte, bevor er sich wieder zu seinem Gast und dem auf der Sitzmatte liegenden Mädchen setzte. Es hatte sich noch kein einziges Mal bewegt, seit es unvermittelt eingeschlafen war, als hätte es seine Erstarrung mit in den Schlaf genommen.
    Tschuang Tse nahm die mit einem schwarzen Band zusammengehaltenen, dünnen Bambustäfelchen mit freudiger Überraschung in die Hand. »Das Buch des Lao Tse! Ich wußte nicht, daß du eine Abschrift besitzt! Es gibt nicht viele davon.«

    »Ich habe es vor einem halben Jahr von einem dankbaren Kaufmann geschenkt bekommen, dessen Frau ich von einer hartnäckigen Krankheit heilen konnte. Er wußte, daß er mir damit eine große Freude machen würde, und ihm fiel es nicht schwer, sich davon zu trennen. Er gestand mir, daß er viele der Weisheiten des Lao Tse beim besten Willen nicht verstehen könne.«
    Tschuang Tse nickte. »Ein Mann, der von morgens bis abends darüber nachdenkt, wie und wo und wann er Waren möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen kann, ist nicht in der Lage, die Tiefe dieses Buches zu ergründen. Er lebt in einer Welt, aus der Lao Tse mit Schaudern geflüchtet ist: Wie soll er da die Gedanken des größten Weisen verstehen, der jemals unter dem Himmel gelebt hat? In deinen Händen ist dieses Buch gut aufgehoben.«
    »Ich möchte dich bitten, es morgen früh von meinen in Yu Lins Hände zu legen! Ich weiß, daß es ihr viel bedeutet, und deshalb ist es das beste Abschiedsgeschenk, das ich ihr machen kann. Sie liebt Lao Tses Gedanken. Oft schon habe ich mit ihr über seine Sinnsprüche geredet und im Rahmen meiner Möglichkeiten versucht, ihre Fragen zu beantworten. Du hättest sie sicherlich besser beantworten können als ich, Tschuang Tse, aber dazu wirst du auf eurer Flucht vielleicht noch Gelegenheit haben.«
    »Wirst du eines Tages nicht vielleicht bereuen, dieses Buch nicht mehr zu besitzen?«
    »Ich kenne es in- und auswendig. Ich habe eine Abschrift des Buches in meinem Gedächtnis.«

    »Bedenke, daß du nicht mehr der Jüngste bist, Kun Liang! Als Heilkundiger weißt du besser als ich, daß im Alter die Kraft des Gedächtnisses nachläßt.«
    Nach einer Weile des Nachdenkens sagte Kun Liang: »Ich werde heute nacht eine Abschrift für mich anfertigen! Die Ereignisse des Abends haben mich so aufgewühlt, daß ich ohnehin keinen Schlaf finden werde.«
    Tschuang Tse legte das Buch auf den Tisch zurück.
    Jemand klopfte an der Tür. Nach Kun Liangs Aufforderung trat Min Teng ein, um sich wieder zu den beiden Freunden zu setzen, die er gern seine Freunde genannt hätte. Der Aufenthalt im Freien unter dem prächtigen Sternenhimmel mit seinem beruhigend leuchtenden Mond hatte seine innere Erregung beschwichtigt.
    Sein Blick fiel auf das Buch und blieb kurz daran haften.
    Tschuang Tse, dem Min Tengs Interesse nicht verborgen geblieben war, sagte: »Dies ist das Buch des Lao Tse, das wertvollste Buch, das jemals geschrieben wurde, und vielleicht das einzige, das sich zu lesen lohnt.«
    »Wer ist Lao Tse?«
    »Du hättest fragen sollen: Wer war Lao Tse? Denn er lebt nicht mehr«, antwortete Kun Liang. »Er ist schon vor mehr als zweihundert Jahren gestorben, doch seine tiefe Erkenntniskraft hat in diesem Büchlein überlebt.«
    »Lebte er heute noch«, sagte Tschuang Tse, »wäre mir kein Weg zu weit, um ihn zu finden und mit ihm zu sprechen und zu schweigen. Daß es dieses Buch gibt, verdanken wir übrigens einem Grenzwächter. Aus eigenem
Antrieb hätte Lao Tse es sicherlich nicht geschrieben, denn er wußte, daß Worte und Schriftzeichen nicht in der Lage sind, wahrhaft tiefe Einsicht zu vermitteln. Es heißt, daß er lange Zeit als kaiserlicher Bibliothekar und Archivar lebte, bis er, betrübt über die Bosheit und Dummheit der Menschen, aus der geschäftigen Welt in die Abgeschiedenheit jenseits der Grenzen des Landes über die Berge flüchtete, auf

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