Das Geschenk der Sterne
Es tut mir leid, daß sie durch meine Flucht ihr Gesicht verlieren wird und auf die Geschenke verzichten muß, die Hong Wang ihr noch versprochen hat.«
»Wäre ich deine Mutter«, sagte Tschuang Tse, »würde es mir vor allem leid tun, dich verloren zu haben.«
»Ach, sie weiß gar nicht, wen sie verloren hat. Wie oft habe ich versucht, ihr mein Wesen zu erklären, doch stets stand ich dabei vor einer unsichtbaren Wand, durch die meine Worte nicht zu ihr dringen konnten. Diese Wand gab es schon immer zwischen ihr und mir, und oft war ich deshalb traurig und verzweifelt, vor allem, wenn ich sah, daß manche Mütter und ihre Töchter ein Herz und eine Seele waren. Doch ich mußte lernen und mich damit abfinden, daß meine Mutter und ich nicht mehr als vertraute Fremde waren, die miteinander lebten, ohne einander zu verstehen. Oft genug hat sie mich enttäuscht und verletzt, und ich habe ihr immer wieder verziehen. Doch als sie mir vor zwei Wochen verkündete, daß sie Hong Wangs Wunsch erfüllt habe, mich als seine dritte Frau zu sich zu nehmen, wußte ich, daß ich ihr dies niemals verzeihen würde. Und trotzdem tut sie mir leid. Sie ist eine Näherin, die ihr Leben lang hart gearbeitet
hat und nun davon träumt, in die höchste gesellschaftliche Schicht der Stadt aufzusteigen. Und ich zerstöre ihren Traum. Bald werden ihre Nachbarn hinter ihrem Rücken über sie tuscheln und lachen.«
»Deine Flucht ist reine Notwehr und deshalb in keiner Weise fragwürdig«, stellte Min Teng fest. »Deine Mutter hat deine Freiheit mißachtet, sie hat dich gegen deinen Willen an einen Mann verkauft, den du verabscheust. Den Spott ihrer Nachbarn hat sie verdient, dein Mitgefühl nicht!«
»Sie ist trotz allem meine Mutter! Wenn sie mich besser kennen würde, wüßte sie heute abend ganz sicher, daß ich geflohen bin. Aber vielleicht wird sie denken, daß ich nicht zurückgekehrt bin, weil mir ein Unglück zugestoßen ist. Ich möchte nicht, daß sie mit der Ungewißheit über mein Schicksal leben muß. Deshalb habe ich meiner Freundin Wan Jing einen Abschiedsbrief an meine Mutter gegeben, den sie ihr in der nächsten Nacht heimlich vor die Haustür legen wird. In diesem Brief habe ich all das aufgeschrieben, was ich meiner Mutter in den letzten Jahren nicht sagen konnte. Und ich habe sie darüber aufgeklärt, daß ich mein Heil in der Flucht gesucht habe.«
»Daran hast du gut getan. Deine Mutter hat deinen Körper zur Welt gebracht, doch das gibt ihr nicht das Recht, deine Seele zu schänden«, entgegnete Tschuang Tse, zog das Buch des Lao Tse aus seiner Satteltasche hervor und reichte es ihr. »Kun Liang bat mich, dir dies zu schenken. Er wollte es dir eigentlich schon gestern abend
geben, hat es aber in der Aufregung über unseren Besuch und den unverhofften Abschied von dir versäumt.«
Mit freudiger Überraschung und Rührung nahm Yu Lin das Buch entgegen, schlug es unvermittelt etwa in der Mitte auf und las mit leiser Stimme: »Ohne aus der Tür zu gehen, kannst du die Wege der Welt verstehen. Ohne aus dem Fenster zu blicken, kannst du die Wege des Himmels sehen. Je weiter du hinausgehst, desto enger wird dein Verstehen. Der Weise reist nicht, aber erreicht trotzdem sein Ziel. Er schaut nicht, und dennoch ist ihm alles klar. Er handelt nicht und erlangt doch Vollendung.«
Tschuang Tse schmunzelte. »Demnach sind wir drei nicht weise, da wir aus der Tür gegangen sind und uns auf eine Reise begeben haben, ja sogar das Land verlassen wollen. Aber wir handeln nicht aus freiem Antrieb, sondern weil die Umstände uns dazu zwingen. Auch Lao Tse ist aus der Tür gegangen, hat sich auf eine Reise begeben und sein Land verlassen, weil die Umstände ihn dazu nötigten. Wir wandeln gewissermaßen auf seinen Spuren!«
»Und wenn er sich nicht auf die Reise gemacht hätte, wäre er nie dem Grenzwächter begegnet, der ihn dazu bewogen hat, sein Buch zu schreiben«, ergänzte Min Teng.
Tschuang Tse lachte. »So ist es! Der Weise macht sich prinzipiell nichts zum Prinzip. Das Leben erfordert die Fähigkeit, frei von starren Grundsätzen zu entscheiden und zu handeln.«
»Je weiter du hinausgehst, desto enger wird dein Verstehen«, wiederholte Min Teng mit gerunzelter Stirn Lao Tses Worte. »Bislang war ich der Auffassung, daß Reisen das Verstehen erweitert.«
»Lao Tse hat seine Worte im Geist des Tao geschrieben, der sich mit dem gewöhnlichen Menschenverstand so schlecht verträgt wie das Feuer mit dem Wasser. Man muß diese
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