Das Geschenk der Sterne
Worte mit den Augen der Seele lesen, wenn man ihre Bedeutung verstehen will«, erklärte Tschuang Tse. »Lao Tse meint: Alles, was außerhalb von uns zu entdecken ist, können wir in uns finden. Das Wesen der Welt und des Himmels wirkt in unserer eigenen Seele. Wer also seinem eigenen Wesen auf den Grund geht, geht dem Wesen allen Lebens auf den Grund. Wer aber zu weit nach außen vordringt, verliert den Zugang zu seinem Inneren, und sein Verstehen verringert sich. Wenn man zu viel mit den Sinnen wahrnimmt, nimmt man den Sinn nicht mehr wahr.«
»Aber wie kann man Vollendung erreichen, ohne zu handeln?« fragte Min Teng.
»Indem man sich mit den natürlichen Strömungen des Lebens treiben läßt und dabei eins mit ihnen wird. Seht ihr den Adler dort am Himmel? Wie anmutig und mühelos er segelt! Er handelt nicht, bewegt seine Flügel nicht, sondern läßt sich von den Strömungen der Winde tragen. Und schaut nur, wie vollendet sein Flug ist!«
Die Blicke der Flüchtlinge folgten dem erhabenen Gleitflug des Adlers an dem wolkenlosen Himmel, der in klarem Blau erstrahlte.
»Nicht handeln heißt nicht, den ganzen Tag zu faulenzen. Es bedeutet, daß man nicht in den natürlichen Lauf des Lebens eingreift, sondern mit ihm fließt. Wer sich zu sehr mit dem Reisen in die Ferne beschäftigt, macht sich von zahllosen äußeren Dingen abhängig und weiß bald nicht mehr, wie er die inneren Sehenswürdigkeiten finden kann. Der nach innen Reisende findet alles, was er sucht, in sich selbst. Dies ist die höchste Form des Reisens«, ergänzte Tschuang Tse.
»Lao Tse war ein bedeutender Weiser«, sagte Yu Lin.
Tschuang Tse nickte. »Er war der bedeutendste. Manche betrachten ihn sogar als einen Heiligen. Er selbst machte sich nichts daraus, wie andere ihn bezeichneten. Seine Schwester, die ihn sehr lange nicht gesehen hatte, besuchte ihn einmal und sagte: ›Als ich hörte, daß du ein Weiser und Heiliger geworden seist, wollte ich dich unbedingt sehen. Davon konnte mich auch der lange Weg zu dir nicht abhalten. Ich lief, bis meine Fersen wund waren, und doch legte ich keine Rast ein. Aber jetzt erkenne ich, daß du kein Heiliger bist! Ich habe gesehen, wie du ein paar schon zum Abfall gelegte Senfblätter genommen und mir zu essen gegeben hast. Das war nicht menschenwürdig. Ich sah auch, wie du Gekochtes und Ungekochtes, das am Tag nicht aufgegessen wurde, für eine andere Mahlzeit zubereitet hast. Das zeugt nicht von guter Erziehung!‹
Lao Tse schwieg mit unbewegter Miene. Am nächsten Tag hatte seine Schwester sich besonnen und sagte zu ihm: ›Gestern habe ich dich getadelt. Heute weiß ich,
daß dies ein Fehler von mir war. Aber warum wirktest du völlig gleichgültig und hast mir nicht einmal eine Antwort gegeben?‹
Lao Tse erwiderte: ›Den Anspruch auf Klugheit, Weisheit und Heiligkeit habe ich längst abgelegt. Hättest du mich gestern einen Ochsen genannt, hätte ich den Namen Ochse angenommen; hättest du mich als Eber bezeichnet, hätte ich den Namen Eber angenommen. Wenn ein Mensch mir einen Namen gibt, nehme ich ihn immer an, denn ich werde in jedem Fall den mit dem Namen verbundenen Vorurteilen unterworfen sein. Wenn ich mich unterwarf, Schwester, dann nicht vor dir, sondern weil jede meiner Handlungen Unterwerfung ist.‹
Das waren Lao Tses Worte. Was seine Schwester darauf erwiderte, ist nicht überliefert und war vielleicht auch nicht überliefernswert.«
»Diese Geschichte berührt meine Seele, aber mein Verstand ist befremdet«, sagte Yu Lin.
Tschuang Tse schmunzelte. »Wenn die Seele sich berührt und der Verstand sich befremdet fühlt, ist das Tao oft nah. Deine Seele ahnt oder versteht schon jetzt, was deinem Verstand immer ein Rätsel bleiben wird.« Er blickte zum wolkenlosen Himmel, wo der Adler noch immer seine Kreise zog. »Es scheint heute wieder ein sonniger Tag zu werden.«
»Ja«, stimmte Yu Lin zu, »es wird ein schöner Tag. Wenn man sieht, wie sanft und friedlich das Land im Licht der Sonne liegt, könnte man fast vergessen, daß
wir in einer Welt voller Wirrnis, Gier, Gewalt und Krieg leben.«
»Im Altertum, vor Tausenden von Jahren, als alle Menschen noch im Tao lebten, gab es keine Wirrnis, keine Gier, keine Gewalt und keinen Krieg«, sagte Tschuang Tse.
»Wie lebten die Menschen zu dieser Zeit?« fragte Yu Lin.
DIE MENSCHEN DES ALTERTUMS
»Die Menschen des Altertums schmiedeten keine Pläne, besaßen keinen Ehrgeiz und vollbrachten keine großen Taten«, antwortete
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