Das Geschenk der Sterne
Tschuang Tse. »Deshalb hatten sie nichts zu bereuen, wenn ihnen etwas mißlang, und sie waren nicht stolz auf das, was ihnen gelang. Ihre Speise war einfach, ihr Atem tief. Sie kannten weder die Liebe zum Leben noch die Angst vor dem Tod. Sie kamen und gingen mit Gelassenheit. Sie waren ausgeprägt in ihren Eigenheiten, aber nicht eigensinnig; sie erschienen demütig, aber schmeichelten niemandem; sie standen über allem Kleinlichen, ohne damit glänzen
zu wollen. Sie waren freundlich und wirkten fröhlich, und doch waren sie zurückhaltend und drängten sich niemandem auf. Anziehend waren sie und hatten viel Gutes zu schenken. Im Umgang miteinander gaben sie sich wortkarg; manchmal wirkten sie geistesabwesend und in sich gekehrt. Und doch halfen sie einander, ohne dies als eine besondere Leistung zu empfinden.«
»Ich hätte sehr gern unter ihnen gelebt«, sagte Yu Lin.
»Damals war die Welt noch voller Sinn und Schönheit«, sprach Tschuang Tse weiter. »Die Menschen standen in tiefem Einklang mit dem Tao, trugen selbstgewebte Kleidung und ernährten sich von selbstbestellten Äckern. Sie waren ein Teil des Wirkens der Natur, lebten in harmonischer Gemeinschaft und kannten nichts Trennendes. Ihr Blick war frei und offen, sie selbst waren schlicht und voller Würde. Es führten noch keine Wege über die Hügel, keine Brücken über die Flüsse, keine Boote fuhren über die Seen, denn die Menschen und Tiere hingen mit allen Fasern ihres Wesens an ihrer Heimat. Die Tiere waren so zutraulich, daß sie den Menschen aus der Hand fraßen, die Vögel so vertrauensvoll, daß sie ihre Nester nicht versteckten. Zu dieser Zeit lebten die Menschen mit den Tieren und Pflanzen und Bäumen zusammen wie in einer großen Familie. Sie waren frei von nachteiliger Erkenntnis. Gier und Machtstreben waren ihnen fremd. Die Menschen des Altertums lebten in reiner Einfalt und bewahrten sich dadurch ihre wahre Natur.«
»Wodurch verloren sie ihre Einheit mit allem Leben?« fragte Yu Lin.
»Durch schädliche Erkenntnis und widernatürliches Streben. Irgendwann traten Menschen in den Vordergrund, die ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen über die Weisheit der Natur stellten, und durch ihre Reden und Taten wurde die Welt in Zweifel und Verwirrung gestürzt. In ihrem unheilvollen Drang, höher als die anderen zu stehen, begannen diese Menschen, sich selbst als Priester zu bezeichnen. Sie führten Glaubenslehren, Bräuche und moralische Grundsätze ein, und dadurch wurden die Menschen nach und nach voneinander und von dem wahren Leben getrennt, mit dem sie bis dahin vereint gewesen waren. Die großen Priester, die in Wahrheit große Zerstörer waren, zertrümmerten rohes Erz, um daraus Opferschalen zu machen. Sie zerschlugen weißen Edelstein, um daraus Prunkgegenstände anzufertigen. Sie verleugneten das Tao und sein naturgegebenes Wirken und stellten moralische Gesetze auf, die auf dem Mist ihrer beschränkten Vorstellungen gewachsen waren, und damit verdarben sie die Menschen, die sich in ihrer Einfalt von dem Brimborium der Priester blenden ließen.«
Tschuang Tse seufzte und schwieg eine Weile, bevor er den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm. »Als die Menschen noch im Tao lebten, wären sie nie auf den Gedanken gekommen, etwas Besonderes zu unternehmen oder irgendwelche fernen Ziele anzustreben. Sie lebten im Augenblick und waren damit zufrieden. Erst als die
selbsternannten Priester sie mit ihren Lehren und Bräuchen geblendet und von sich selbst entfremdet hatten, begannen die Menschen mit der verhängnisvollen Suche nach immer mehr Wissen und mit der Jagd nach dem vermeintlichen Glück, ohne zu ahnen, daß sie das wahre Glück bereits verloren hatten. Sie fingen zu laufen an und stolperten bei ihrer rastlosen Suche nach Erkenntnis über ihre eigenen Füße, stritten sich bei dem Streben nach Gewinn, bis es kein Halten mehr gab. Das alles ist die Schuld der Priester.«
Min Teng fiel es schwer, Yu Lin nicht ständig anzusehen, während Tschuang Tse sprach. Ihr Gesicht strahlte eine Schönheit aus, die er bei noch keiner Frau gesehen hatte. Sein Vater hatte einmal gesagt, daß sich hinter einem liebreizenden Frauengesicht oft eine weniger anziehende Seele verbirgt, aber etwas sagte ihm, daß Yu Lins Seele so schön war wie ihr Antlitz.
»Warum haben die Menschen sich in jenen alten Zeiten von den selbsternannten Priestern aus der Verbindung mit dem Tao reißen lassen?« fragte Yu Lin.
»Weil ihre reine Einfalt ihnen keinen
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