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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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Menschen?«
    »Nun, sie werden sich bestimmt nicht darüber streiten, ob die Sonne größer ist, wenn sie morgens aufgeht, oder wenn sie ihren höchsten Stand erreicht hat – wie die beiden neunmalklugen Jungen, denen wir auf dem Weg zu Kun Liang begegnet sind«, antwortete Tschuang Tse auf Min Tengs Frage. »Mit überflüssigen Gesprächen vergeuden Tiere sicherlich keine Zeit, aber über die Dinge, die für sie im Augenblick von Bedeutung sind, sprechen sie bestimmt. Wenn Gefahr droht, wenn Futter oder Beute locken, wenn die Zeit der Paarung gekommen ist, wenn das Wetter umschlägt, sprechen sie miteinander. In dieser Hinsicht sind sie klüger als die Menschen, die so oft ihren Atem mit sinnlosen Gesprächen verschwenden, die nur dadurch zu erklären sind, daß viele Menschen sich gern reden hören. Der bloße Klang ihrer eigenen Worte versetzt sie in Entzücken, einerlei wie unbedeutend und töricht diese Worte sein mögen.«

    Ein Vogel auf einem der unteren Äste des Ginkgos zwitscherte, als wollte er Tschuang Tse recht geben.
    »Der Ginkgo ist einer der schönsten unter den Bäumen«, sagte der Weise und blickte mit glänzenden, freudigen Augen in die Krone des Baumes empor, der seine Äste wie Dutzende von Armen in die Höhe gestreckt hatte, wie um dem Himmel für sein Leben zu danken.
    »Heute morgen, auf dem Hügel der Eschen, sagtest du, der Weise mache sich prinzipiell nichts zum Prinzip«, wandte sich Min Teng an Tschuang Tse. »Das Leben erfordere die Fähigkeit, frei von starren Grundsätzen zu entscheiden und zu handeln. Auf die Gefahr hin, dir eine törichte Frage zu stellen: Sind gewisse Grundsätze für das Zusammenleben der Menschen nicht vonnöten?«
    »Für die allermeisten Menschen sind sie vonnöten, weil sie in ihrer heillosen Verwirrung Hoch und Niedrig, Kostbar und Wertlos, Richtig und Falsch nicht voneinander unterscheiden können. Sie brauchen Prinzipien, an denen sie sich festhalten können wie der Ertrinkende an einem Baumstamm, weil sie die Fähigkeit verloren haben, im Fluß des Tao zu schwimmen. Für den Weisen sind Grundsätze wie Fußfesseln, die ihn nur behindern auf seinem Weg im Einklang mit dem höchsten Sinn.«
    »Vor einigen Wochen kam ein Weiser zum Palast des Prinzen Yan, um seine Weisheit in Yans Dienste zu stellen«, sagte Min Teng. »Aber Yan entließ ihn nach wenigen Tagen.«

    »Das war kein Weiser, sondern allenfalls ein Klugredner!«
    »Weil Prinz Yan ihn entlassen hat?«
    »Ach was!« erwiderte Tschuang Tse. »Yan kann einen Weisen nicht von einem Klugredner unterscheiden. Er war deshalb kein Weiser, weil er um des Goldes und der Ehre willen bereit war, sich zum Diener eines Herrschers zu machen. Den Weisen erkennt man daran, daß er sich vor keinen Karren spannen läßt, keine fremden Lasten trägt und sich nicht ausnutzen läßt, auch wenn Gewinn und Ansehen locken. Der Weise bemüht sich, nutzlos und unbrauchbar zu sein. Zimtbäume werden gefällt, weil man Zimt essen kann. Lackbäume werden abgehackt, weil Lack nützlich ist. Alle Welt kennt die Brauchbarkeit des Nützlichen, doch wenige wissen um die Nützlichkeit des Unbrauchbaren.«
    »Wozu kann das Unbrauchbare nützlich sein?« fragte Yu Lin.
    »Es gibt nicht weit von hier einen Ort, wo Trompetenbäume, Zypressen und Maulbeerbäume wachsen. Die Bäume, die eine oder zwei Handbreiten Umfang haben, werden abgehauen von Leuten, die nach Pfählen zum Anbinden ihrer Affen suchen. Die Bäume mit einem Umfang von drei, vier Spannen werden von Leuten abgeholzt, die nach Balken für die Dächer ihrer Häuser suchen. Die Stämme mit einem Umfang von sieben, acht Spannen werden von vornehmen Familien und reichen Kaufleuten gefällt, die daraus Bretter für Särge zimmern lassen. So erreichen alle Bäume nicht die ihnen vom
Himmel vorgesehene Lebensdauer, sondern sterben auf halbem Weg durch Axt und Beil. Das ist der Fluch der Brauchbarkeit, das ist das Leiden der Nützlichkeit.«
    »Ist es denn nicht die Pflicht des Weisen, anderen Menschen mit seiner Weisheit zu helfen, wie es die Aufgabe des Starken ist, die Schwachen zu schützen?« fragte Min Teng.
    Tschuang Tse winkte ab. »Der Weise hat keine Pflicht! Er gleicht jener alten Eiche, die so breit war, daß sich ein Ochse hinter ihrem Stamm verstecken konnte, und so hoch gewachsen, daß sie die Hügel in ihrer Umgebung überragte. In einer Höhe von achtzig Fuß erst verzweigte sie sich in etwa zehn Hauptäste, die so dick waren, daß man aus jedem von ihnen ein

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