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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Stimme, die so schreckliche Dinge sagte, geruchlos?
    Mit zwei Sätzen brachte er die weite gepflasterte Terrasse hinter sich. Dann warf er sich so kraftvoll gegen die Tür, dass das Schloss brach.
    Er landete auf den Dielenbrettern und stieß die Tür hinter sich zu, ohne sich umzudrehen.
    Zitternd und verängstigt stand Laura neben dem großen Kamin, den langen Stiel der Axt in den erhobenen Händen.
    «Er ist gekommen, um dich zu töten, Reuben», sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
    Ihr gegenüber stand ein kleiner, schlanker, dunkelhäutiger Mann. Sein Gesicht hatte leicht asiatische Züge. Er schien um die fünfzig zu sein, hatte kurzes schwarzes Haar und kleine schwarze Augen. Er trug ein schlichtes graues Jackett, eine graue Hose und ein weißes Hemd mit offenem Kragen.
    Reuben baute sich zwischen ihm und Laura auf.
    Der kleine Mann wich zurück und musterte Reuben mit einem so gleichgültigen Blick, als betrachtete er einen Fremden auf der Straße.
    «Er sagt, er muss dich töten», sagte Laura heiser. «Er sagt, er hat keine Wahl. Und er sagt, dass er mich auch töten muss.»
    «Geh nach oben», sagte Reuben und ging auf den Mann zu. «Schließ dich im Schlafzimmer ein.»
    «Dafür ist keine Zeit», sagte der Mann. «Wie ich sehe, sind die Beschreibungen von Ihnen nicht übertrieben. Sie sind ein bemerkenswertes Exemplar Ihrer Rasse.»
    «Was für eine Rasse soll das sein?», fragte Reuben. Er stand kaum einen Meter von dem Mann entfernt und blickte auf ihn hinab. Auch aus der Nähe konnte er keinen Geruch ausmachen, was ihn aufs äußerste irritierte. Zwar roch der Mann nach Mensch, aber nicht nach Feindseligkeit oder bösen Absichten.
    «Was Ihnen passiert ist, tut mir leid», sagte der Mann beinahe freundlich. «Ich hätte Sie nicht anfallen dürfen. Es war ein unverzeihlicher Fehler. Aber es ist nun einmal passiert, und mir bleibt nichts anderes übrig, als diesen Fehler auszumerzen.»
    «Dann stecken Sie also dahinter?», fragte Reuben.
    «Richtig. Aber es war nicht meine Absicht.»
    Er machte einen durchaus vernünftigen Eindruck und war viel zu klein, um Reuben gefährlich zu werden. Aber Reuben wusste, dass er eine andere Gestalt annehmen konnte, und er fragte sich, ob es nicht ratsam wäre, ihn zu töten, bevor er sich verwandelte. Sollte er nicht die Zeit nutzen, in der sein Gegner schwach und schutzlos war? Oder ihn wenigstens zwingen, die Informationen preiszugeben, die für Reuben so wichtig waren? Vielleicht kannte er mehr Geheimnisse, als Reuben ahnte.
    «Ich bewache dieses Haus schon lange», sagte der Mann und wich noch weiter vor Reuben zurück. «Es dauert alles schon viel zu lange. Ich war kein guter Wächter, manchmal war ich nicht einmal hier. Es ist unverzeihlich, und wenn man mir auch nur ein bisschen Gnade gewähren soll, muss ich meinen Fehler korrigieren. Ich wünschte, mein armer junger ‹Wolfsmensch›, wie Sie sich bezeichnen, Sie wären nie geboren worden.»
    Ein teuflisches Lächeln glitt über sein Gesicht, und gleichzeitig setzte seine Verwandlung ein. Sie vollzog sich so schnell, dass Reuben die Einzelheiten kaum verfolgen konnte, obwohl sich alles genau vor seinen Augen abspielte. Die Kleidung des Mannes platzte auf, als sich seine Brust ausdehnte und seine Arme und Beine wuchsen. Er riss sich die goldene Uhr vom Arm und warf sie zu Boden. Überall schossen feine, glänzende Haare aus seiner Haut und verdichteten sich zu einem Pelz. Seine anschwellenden Füße sprengten seine Schuhe, und ihm wuchsen Pfoten mit langen Klauen. Dann streifte er die Reste von Hemd, Jackett und Hose ab. Aus seiner Brust kam das tiefe Knurren, das Reuben so gut kannte.
    Alles in allem wurde aus dem anderen eine kleinere, stämmigere Version von Reuben in Wolfsgestalt, aber der untere Teil seines Körpers, seine Pfoten und Klauen schienen stärker zu sein. Jedenfalls kam es Reuben so vor, aber er konnte nicht einschätzen, welche Kraft in seinem Gegenüber wohnte.
    Laura kam näher. Aus dem Augenwinkel sah er sie neben dem Kamin, die Axt immer noch in den erhobenen Händen.
    Reuben versuchte, die Ruhe zu bewahren. Er atmete tief durch, besann sich auf seine Stärke und dachte: Du kämpfst nicht nur um dein Leben, sondern auch für Laura.
    Der Mann war jetzt gut dreißig Zentimeter größer als vor der Verwandlung und hatte eine eindrucksvolle schwarze Mähne, aber Reuben war immer noch deutlich größer als er.
    Ruhig bleiben, dachte Reuben. Ganz ruhig bleiben. Er war wütend, aber weit

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