Das Geschenk der Wölfe
ist völlig unvorhersehbar. Niemand weiß, was genau geschieht, wenn das Chrisam auf pluripotente Stammzellen trifft.»
«Erklären Sie’s mir», sagte Reuben. «Was ist dieses Chrisam genau?» Er versuchte noch einmal, einen Schritt vorwärtszumachen, und dieses Mal wich der andere wieder zurück, wenn auch widerstrebend. Seine Schenkel waren angespannt, die Arme kampfbereit angewinkelt.
«Nein», sagte er kühl. «Vielleicht wäre ich dazu bereit, hätten Sie etwas mehr Zurückhaltung und Klugheit walten lassen.»
«Ach, dann ist es wohl meine Schuld, was?» Reuben bewegte sich weiter vor, und der andere wich gleich zwei Schritte zurück. Es war nur noch ein kleines Stück bis zu der holzgetäfelten Wand. «Wo waren Sie denn, als das Chrisam in mir zu wirken begann? Was haben Sie getan, um mir den rechten Weg zu weisen oder mich wenigstens zu warnen?»
«Längst woanders», sagte die Bestie und begann die Geduld zu verlieren. «Als ich von Ihren Exzessen hörte, war ich am anderen Ende der Welt. Und jetzt werden Sie deswegen sterben. War es das wert? Das würde mich wirklich interessieren. War es der Höhepunkt Ihres bisherigen Lebens?»
Reuben sagte nichts. Er fand, es war an der Zeit zuzuschlagen.
Doch der andere sprach weiter. «Glauben Sie mir, es bricht mir das Herz», sagte er und entblößte die Reißzähne in einem hässlichen Lächeln. «Hätte ich Sie als einen auserwählt, der das Chrisam empfangen soll, so wären Sie ein prachtvolles Wesen geworden, ja, das prachtvollste aller Morphenkinder. Aber leider hatte ich Sie nicht auserwählt. Sie sind kein Morphenkind.» Tatsächlich benutzte er das deutsche Wort «Kind». «Stattdessen ist aus Ihnen ein hassenswertes Monster geworden. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, Sie zu erwählen. Ich hätte Sie nicht einmal wahrgenommen. Aber nun nimmt Sie die ganze Welt wahr. Doch damit ist nun Schluss.»
Jetzt ist er derjenige, der auf Zeit spielt, dachte Reuben. Warum? Weiß er, dass er mir unterlegen ist?
«Wer hat Sie mit der Bewachung dieses Hauses beauftragt?», fragte er.
«Einer, der nicht dulden kann, was passiert ist», sagte der andere. «Ausgerechnet hier.» Er seufzte. «Kein Wunder, wenn sich ein so gewöhnlicher junger Mann an Marchent heranmacht, an seine heißgeliebte Marchent, und sie dann auch noch stirbt.» Er verdrehte die Augen und entblößte die Zähne.
«Von wem sprechen Sie? Was hat er mit Marchent zu tun?», fragte Reuben.
«Sie sind schuld an ihrem Tod», zischte die Bestie und ließ ein tiefes Knurren folgen. «Ich habe meinen Wachposten verlassen, als Sie kamen, weil ich Marchent und Sie nicht belauschen wollte. Ausgerechnet da wurde Marchent angegriffen. Deswegen ist es Ihre Schuld. Aber dafür werden Sie jetzt büßen.»
Reuben zwang sich, ruhig zu bleiben. «Ist es Felix Nideck, der Sie beauftragte, das Haus zu bewachen?»
Der andere zuckte zusammen, zog die Schultern an und verschränkte die Arme. Gleichzeitig knurrte er. «Meinen Sie etwa, diese Fragerei brächte Ihnen etwas ein?» Er schnaubte verächtlich. «Ich für meinen Teil bin mit Ihnen fertig.»
Reuben fuhr die Klauen aus und stürzte sich auf ihn. Er rammte seinen Kopf in die Holztäfelung und griff nach seinem Hals.
Knurrend und schnarrend trat der andere nach Reuben und schlug mit den mächtigen Vorderpfoten nach seinem Kopf. Mit ungeheurer Stärke hielt er ihn auf Distanz.
Reuben riss an seiner Mähne und schleuderte ihn gegen den Kaminsims. Vor Schmerz jaulte der andere laut auf, hackte mit den Klauen auf Reubens Arm ein und rammte ihm schließlich das Knie in die Eingeweide.
Das nahm Reuben die Luft. Er taumelte zurück, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er spürte, dass der andere ihn am Hals packte und die Klauen tief in sein Fell drückte. Der heiße Atem des anderen schlug ihm ins Gesicht.
Der Kampf tobte hin und her, bevor Reuben sich losreißen konnte, indem er mit aller Kraft auf seine Innenarme schlug und ihn damit zwang, seinen Griff zu lockern.
Dann warf Reuben sich auf ihn und stieß seinen Kopf wieder an die Wandverkleidung. Doch er erholte sich schnell und sprang Reuben an. Seine kräftigen Schenkel ließen ihn katapultartig vorschnellen, und um seinen Klauen zu entgehen, wich Reuben so unkontrolliert zurück, dass er zu Boden ging.
Schnell stand er wieder auf, holte dabei mit dem rechten Arm aus und versetzte dem anderen einen gewaltigen Schlag. Trotzdem konnte er sich erneut auf Reuben stürzen. Er entblößte die Reißzähne
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