Das Geschenk der Wölfe
auf, und sie fragte: «Sag mal, löst sich dieses … dieses Ding langsam auf?»
«Ja, es scheint zu verschrumpeln, auszutrocknen.»
«Nein, es verschwindet», sagte Laura und hockte sich neben Reuben. «Sieh doch nur! Sogar die Knochen lösen sich auf. Am liebsten würde ich es mal anfassen, aber ich trau mich nicht.»
Reuben sagte nichts.
Kopf und Rumpf wurden immer kleiner und flacher. Laura hatte recht. Das Fleisch wirkte jetzt pulvrig und porös.
«Schau!», sagte Laura. «Der Teppich! Er war doch ganz blutig!»
«Ich sehe es», sagte Reuben leise. Der blutige Film auf dem Teppich teilte sich und bildete tausend winzige Punkte, die sich nach und nach wie Schneeflocken auflösten. «Dasselbe passiert auf deinem Nachthemd.»
Tatsächlich verkrustete das Blut auch dort, schrumpfte und verschwand. Laura knüllte den Stoff zusammen und streifte die letzten Reste ab. Dann griff sie sich ins Haar. Auch da lagen nur noch blutige Flocken, die herabfielen und wie Schnee schmolzen.
«Jetzt verstehe ich», sagte Reuben und hielt beinahe die Luft an. «So ist das also.»
«Was denn?», fragte Laura.
«Warum es immer heißt, der Wolfsmensch sei im Prinzip ein Mensch. Aber sie lügen. Sie haben keine Beweise. Sie haben gar nichts. Verstehst du, Laura? Wir sehen gerade mit eigenen Augen, was mit uns passiert. Alles Wölfische löst sich auf. Es bleibt nichts übrig, was irgendjemand untersuchen oder analysieren könnte. Die Proben, die an den Tatorten genommen wurden, haben sich aufgelöst, bevor sie analysiert werden konnten. Wahrscheinlich schon bevor sie in Labors gebracht werden konnten. Damit ist nämlich das Gleiche passiert wie mit dieser Leiche hier.»
Reuben kroch auf die Leichenteile zu und beugte sich über den Kopf. Das Gesicht war in sich zusammengefallen, und der ganze Kopf war nur noch ein hässlicher Fleck auf dem Teppich. Er roch daran. Verwesung. Eine Mischung aus menschlichen und tierischen Ausdünstungen. Kaum wahrnehmbar. War es bei ihm genauso? Empfanden andere ihn als geruchlos, wenn er Wolfsgestalt annahm? Oder nur seine Artgenossen?
Er hockte sich hin und sah auf seine Pfoten, die weichen Polster, die seine Handflächen ersetzt hatten, und die weiß schimmernden Klauen, die er ausfahren und einziehen konnte.
«Das alles …», sagte er nachdenklich. «Alles Gewebe, das bei der Verwandlung entsteht, löst sich wieder auf. Spurlos. Es entwässert und zerfällt in Partikel, die so klein sind, dass man sie nicht mehr sehen oder irgendwie erfassen kann, selbst nicht in medizinischen Labors, die mit allen möglichen Chemikalien, Konservierungsmitteln und sonst was ausgestattet sind. Das erklärt alles – die widersprüchlichen Aussagen der Offiziellen in Mendocino und in San Francisco. Jetzt ist mir alles klar.»
«Ich kann dir nicht ganz folgen», sagte Laura.
Reuben berichtete ihr von den fehlgeschlagenen Tests, die im San Francisco General Hospital an ihm vorgenommen worden waren. Nachdem erste Resultate gewonnen worden waren, hatte man bei weiteren Untersuchungen festgestellt, dass die Proben unbrauchbar geworden beziehungsweise ganz verschwunden waren.
«Anfangs war mein Gewebe wahrscheinlich noch so beschaffen, dass es sich nicht so schnell auflöste. Ich war noch nicht vollständig zu diesem neuen Wesen geworden. Was hat der Mann über Zellen gesagt? Erinnerst du dich daran?»
«Er sprach von pluripotenten Stammzellen. Die hat jeder. Als Embryos sind wir nichts als eine Ansammlung von pluripotenten Stammzellen. Dann empfangen diese Zellen Signale, chemische Signale, die sie dazu bringen, sich in die eine oder andere Richtung zu entwickeln. Sie werden dann zu Hautzellen, Augenzellen, Knochenzellen oder …»
«Okay, verstehe», sagte Reuben. «Und als Erwachsene haben wir immer noch solche Zellen in uns?»
«Genau.»
«Und diese magische Substanz, das Chrisam, hat diese Zellen in mir auf eine Weise beeinflusst, dass ich zum Morphenkind wurde oder wie immer man es nennen will?»
Laura nickte und sagte nachdenklich: «Dieses Chrisam muss eine Art Serum im Speichel und in anderen Körperflüssigkeiten dieser Morphenkinder sein, das eine Reihe von Veränderungen in Drüsen und Hormonhaushalt bewirkt, die wiederum zu diesem enormen Wachstum führen.»
Jetzt nickte Reuben.
«Und du sagst, dass die Proben, die dir entnommen wurden, kurz nachdem du gebissen wurdest und als du dich noch im Transformationsprozess befandest, trotzdem schon nach kurzer Zeit unbrauchbar wurden?»
«So
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