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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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keinen, der großzügiger war als er. Als er fortging, war es ein herber Verlust für alle hier. Natürlich wussten wir nicht, dass wir ihn nie wiedersehen würden. Im Gegenteil. Alle dachten, er kommt zurück.»
    «Wie alt war er, als er fortging?»
    «Ich habe gehört, dass er sechzig gewesen sein soll. Jedenfalls stand das in der Zeitung, als man anfing, nach ihm zu suchen. Das konnte ich gar nicht glauben. Ich hätte ihn keinen Tag älter als vierzig geschätzt. Ich selbst war vierzig, als er verschwand, und sah nicht viel jünger aus. Aber inzwischen hab ich erfahren, dass er 1932 geboren wurde. Das hatte ich nicht gewusst. Natürlich stammt er nicht von hier, sondern aus Übersee. Ich kannte ihn ungefähr fünfzehn Jahre lang, aber ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass er sechzig gewesen sein soll.»
    Reuben nickte.
    «Nun muss ich aber wieder los», sagte Galton. «Der Kaffee hat mich aufgewärmt. Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen. Ach, hat dieser Typ Sie übrigens angetroffen? Ein alter Freund von Felix.»
    «Wer soll das gewesen sein?», fragte Reuben.
    «Marrok», sagte Galton. «Ich hab ihn neulich Abend im Gasthaus getroffen. Er hat da einen Drink genommen und fragte mich, ob ich wüsste, wann Sie zurückkommen.»
    «Erzählen Sie mir ein wenig von ihm.»
    «Ach, der ist hier ein alter Bekannter. Er sagt, er war Felix’ bester Freund. Wenn er in der Gegend war, hat er immer hier im Haus gewohnt. Das heißt, bis Marchent ihn rausgeschmissen hat. Sie konnte ihn nicht ausstehen. Aber wenn er das nächste Mal wieder auftauchte, hat sie ihn wieder aufgenommen. Ich weiß nicht, was er hier wollte. Rumschnüffeln wollte er bestimmt nicht. Wahrscheinlich wollte er nur sehen, ob mit dem Haus alles in Ordnung war und ob es in gute Hände übergegangen ist. Ich hab ihn beruhigt und gesagt, das Haus sei in sehr guten Händen.»
    «Er hat sich mit Marchent nicht verstanden?»
    «Na ja, als sie noch ein kleines Mädchen war, mochten sich die beiden, aber als Felix dann verschwand … Ich weiß nicht … Irgendwie mochte sie ihn nicht. Einmal hat sie sogar zu mir gesagt, sie wünschte, sie könnte ihn loswerden. Meine Frau, Bessie, meint, dass er in Marchent verliebt war und sie irgendwie bedrängt hat. Natürlich gefiel Marchent das nicht. Kann man sich ja vorstellen.»
    Reuben sagte nichts.
    «Die Brüder hassten ihn regelrecht», sagte Galton. «Andauernd hat er ihnen Schwierigkeiten gemacht. Wenn sie eine Gaunerei ausheckten, hat er’s rausgekriegt und sie verraten. Wie das eine Mal, als sie ein Auto geklaut hatten und auf Sauftour gingen, als sie noch nicht mal alt genug waren, um überhaupt Alkohol kaufen zu dürfen.
    Ihr Vater konnte den Mann auch nicht ausstehen. Abel Nideck war ein anderer Typ als Felix. Ein ganz anderer. Er hat Marrok nicht rausgeschmissen, aber praktisch nicht mit ihm geredet. Dabei war die Familie ja nicht oft hier. Marchent auch nicht. Sie war die Einzige, die ein gutes Wort für ihn hatte, weil er Felix nahegestanden hatte. Jedenfalls glaub ich, dass das der Grund war. Manchmal hat er in dem Schlafzimmer hinten im Haus übernachtet, ganz oben, manchmal aber auch im Wald hinterm Haus. Das tat er ganz gern, weil er am liebsten allein war.»
    «Wissen Sie, woher er kam?»
    Galton schüttelte den Kopf. «Felix hatte so viel Besuch, Leute aus … keine Ahnung … aus aller Welt. Dieser Marrok kam irgendwo aus Asien. Vielleicht aus Indien. Aber genau weiß ich das nicht. Seine Haut ist ziemlich dunkel, sein Haar pechschwarz, und er drückt sich sehr vornehm aus, wie alle Freunde von Felix. Aber für Marchent war er viel zu alt, auch wenn man ihm, genau wie Felix, sein Alter nicht ansieht. Ich weiß ja ungefähr, wie alt er ist, denn ich weiß, wie lange er hier schon auftaucht. Damals war Marchent noch ein Kind.»
    Galton sah sich nach allen Seiten um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand ihn hörte, der ihn nicht hören sollte. Dann sagte er vertraulich: «Wissen Sie, was Marchent zu Bessie gesagt hat? Sie sagte: ‹Felix will, dass er auf mich aufpasst und mich beschützt. Aber wer beschützt mich vor
ihm
?›» Galton lachte, lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. «Aber so schlimm ist er nun auch wieder nicht. Als Abel und Celia gestorben waren, ist er sogar für ’ne Zeit hergezogen, damit Marchent nicht allein war. Das war wahrscheinlich das einzige Mal, dass sie ihn wirklich brauchte. Aber lange ist er nicht geblieben. Jedenfalls müssen Sie

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