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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war sich kaum noch bewusst, wo er war und was er gerade getan hatte.
    Plötzlich brachte Jims Stimme ihn ins Hier und Jetzt zurück.
    «Das hier ist wirklich ein ganz außerordentlicher Ort», sagte er. «Aber du bezahlst einen hohen Preis dafür.»
    «Ich weiß.» Reuben presste die Lippen zusammen und lächelte bitter. Dann legte er die Hände aneinander und begann, ein Reuegebet zu sprechen: «Gott im Himmel, ich bereue von Herzen … von ganzem Herzen, ich schwöre es. Ja, ich bereue von ganzem Herzen. Herr, zeige mir den Weg. Zeige mir, wer oder was ich bin. Gib mir die Kraft, jeglicher Versuchung zu widerstehen. Lass mich anderen kein Leid zufügen, sondern stets aus Liebe handeln. In deinem Namen.»
    Er meinte es ernst, aber das rechte Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ihm war bewusst, was für ein winziger Planet die Erde war, nur ein Punkt im ewigen Kreiseln der Milchstraße, die ihrerseits nur eine winzige Galaxie in einem endlosen Universum war. Das alles war viel zu gewaltig, um von Menschen erfasst zu werden. Sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht mit Gott, sondern bloß mit Jim sprach. Und für Jim. Aber hatte er in der letzten Nacht nicht mit Gott gesprochen? Sprach er nicht auf seine ganz eigene Art mit Gott, wenn er den Wald betrachtete und von dem Gefühl durchdrungen war, dass alles, was darin lebte, eine Huldigung Gottes war, ein Gebet?
    Die Brüder schwiegen, vereint in ihrer Traurigkeit.
    Schließlich sagte Reuben: «Meinst du, Teilhard de Chardin könnte recht haben, wenn er schreibt, wir fürchten, dass Gott nicht existiert, weil wir die immense Weite des Universums nicht begreifen? Dass wir um unsere individuelle Einzigartigkeit fürchten, wenn es keine übergeordnete Macht gibt, die alles zusammenhält? Eine übergeordnete moralische Instanz, die uns anstelle unseres freien Willens Moral abfordert und uns …»
    Er sprach nicht weiter. Die Erörterung abstrakter theologischer oder philosophischer Fragen war nie seine Stärke gewesen. Stattdessen lechzte er nach Theorien, die er verstehen und sich bei Bedarf ins Gedächtnis rufen konnte, um allen Dingen in einer scheinbar hoffnungslos überdimensionierten Welt einen Platz und einen Sinn zu geben – auch sich selbst.
    Jim schüttelte den Kopf und sagte ernst: «Reuben, wenn du auch nur einem einzigen fühlenden Wesen das Leben nimmst, egal ob schuldig oder unschuldig, handelst du gegen den Willen des Erlösers – wer oder was immer das sein mag. Du greifst in das Wunder der Schöpfung ein und konterkarierst sein Wirken.»
    «Stimmt», sagte Reuben mit Blick auf den Eichenwald, der von der zunehmenden Dunkelheit allmählich verschluckt wurde. «Für dich stimmt es. Das ist dein Glaube, Jim. Aber wenn ich mich in ein Morphenkind verwandle, fühlt es sich für mich anders an. Ganz anders.»

[zur Inhaltsübersicht]
    24
    R euben hatte das Abendessen aufgesetzt, bevor er in den Wald ging, sodass eine Lammkeule mit Gemüse den ganzen Nachmittag langsam vor sich hin geschmort hatte.
    Laura machte dazu einen köstlichen Salat mit Tomaten, Avocados, gutem Olivenöl und Kräutern, und sie setzten sich zum Essen ins Frühstückszimmer. Reuben griff hungrig zu, aber Jim probierte nur ein wenig von allem.
    Laura trug ein altmodisches Kleid aus weiß-gelb karierter Baumwolle. Die langen Ärmel endeten in Manschetten, und die Knöpfe hatten die Formen von Blumen. Das glänzende Haar trug sie offen. Lächelnd verwickelte sie Jim in ein Gespräch über die Kirche und seine Arbeit.
    Die Atmosphäre entspannte sich spürbar. Sie sprachen über die Muir Woods und Lauras Forschung über das «Untergeschoss», also den Waldboden, und wie man seine Zerstörung durch Tausende Besucher verhindern konnte, die verständlicherweise jedes Jahr kamen, um die unglaubliche Schönheit der Redwoodbäume mit eigenen Augen zu sehen.
    Ihre Vergangenheit erwähnte Laura mit keinem Wort, und Reuben glaubte kein Recht zu haben, das Gespräch darauf zu lenken. Jim sprach voller Enthusiasmus über die Armenspeisung in St. Francis und die große Anzahl von Portionen, die dieses Jahr zu Thanksgiving ausgegeben werden sollten.
    Früher hatte Reuben an Thanksgiving immer in St. Francis ausgeholfen, genau wie Phil und Celeste und sogar Grace, wenn sie dafür Zeit hatte. Es machte ihn traurig, dieses Jahr wohl nicht dabei sein zu können. Auch zu Hause würde er dieses Jahr nicht dabei sein, wenn sich die Familie um 19  Uhr zum traditionellen Festessen um den großen Tisch

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