Das Geschenk der Wölfe
könnte.»
«Nein, Jim, ich kann es ihr nicht sagen. Es spielt keine Rolle, welches Labor an mir herumdoktert. Moms Angst, der eigene Sohn könnte zu einem Monster mutiert sein, ist eine Sache, aber die ganze Wahrheit aus seinem eigenen Mund zu hören, wäre einfach zu viel. Das wird nicht passieren. Das ist keine Option für mich. Im Nachhinein bereue ich sogar, dir alles erzählt zu haben.»
«Sag das nicht, Kleiner!»
«Hör zu, Jim! Ich fürchte das Gleiche wie du, nämlich dass diese Sache mich komplett verändert. Dass ich alle Zurückhaltung und jegliches Maß verliere und meinen animalischen Trieben bedenkenlos nachgebe, dass ich …»
«Mein Gott, Reuben!», stieß Jim erschrocken aus.
«Aber ich verspreche dir, dass ich eine solche Entwicklung nicht kampflos mitmachen werde. Ich bin nicht schlecht, Jim! Auch nicht als Wolfsmensch. Ich weiß es. Ich fühle es. Meine Seele ist das, was mich ausmacht, egal in welcher Gestalt. Ich bin kein gewissenloses Monster ohne Mitgefühl und Moral.»
Reuben legte die Hand an die Brust.
«Hier drinnen spüre ich es, Jim! Und ich sage dir noch was. Es geht nicht mehr weiter. Ich habe mein endgültiges Entwicklungsstadium erreicht. Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, aber ich setze mich damit auseinander und lerne jedes Mal, wenn ich mich verwandle, etwas Neues. Ich werde kein schlechterer Mensch.»
«Aber, Reuben, du hast doch selbst gesagt, dass für dich alles verblasst, was früher war, dass deine neuen Gefühle und Impulse ungleich stärker sind. Willst du jetzt plötzlich das Gegenteil behaupten?»
«Meine Seele vergeht nicht, Jim. Ich schwöre es. Sieh mich an und sag, dass du deinen Bruder nicht mehr wiedererkennst!»
«Du bist mein Bruder, Reuben. Aber die Männer, die du getötet hast, waren auch meine Brüder. Und deine. Was kann ich nur sagen, um dir klarzumachen, worum es geht? Die Frau, die du getötet hast, war deine Schwester! Wir sind doch keine wilden Tiere, Reuben! Wir sind Menschen, gleichwertige Geschöpfe. Wir alle! Du musst nicht mal an Gott glauben, um das zu begreifen.»
«Okay, beruhige dich, Jim.» Reuben griff nach der Kaffeekanne und schenkte Jims Becher noch einmal voll.
Jim lehnte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen, aber er hatte Tränen in den Augen.
Reuben hatte ihn noch nie weinen sehen. Jim war fast zehn Jahre älter als er. Er war bereits ein großer, kluger und selbstbeherrschter Junge gewesen, als Reuben dem Krabbelalter entwuchs. Wie Jim als kleines Kind gewesen war, wusste er also gar nicht.
Jetzt sah Jim zum Wald hinaus. Die Nachmittagssonne senkte sich langsam, und das Haus warf einen langen Schatten, der bis zu den Bäumen reichte. Aber in der Ferne, wo ein bewaldeter Hügel zum südlichen Ende des Redwoodwalds anstieg, war sie noch in ihrer ganzen Pracht am Himmel zu sehen.
Nach einer Weile murmelte er so leise, als spräche er mit sich selbst: «Wenn du nicht weißt, was die Verwandlung auslöst, und nicht steuern kannst, ob und wann es passiert … Bedeutet das, du verwandelst dich jede Nacht in dieses Ding, für den Rest deines Lebens?»
«Ganz bestimmt nicht», erwiderte Reuben. «Diese Spezies, diese Morphenkinder, könnten nicht überleben, wenn sie sich jede Nacht verwandelten. Das kostet viel zu viel Kraft. Langsam lerne ich, diese Wesen zu begreifen. Und ich bin dabei, Kontrolle über den Verwandlungsprozess zu gewinnen. Mit der Zeit werde ich lernen, Anfang und Ende der Verwandlung nach meinem Willen zu steuern. Dieser Wächter, Marrok, er konnte sich verwandeln, wann er wollte, einfach so. Genau das werde ich auch lernen.»
Jim seufzte und schüttelte den Kopf.
Sie schwiegen eine Weile, und Jim blickte weiter auf den Wald. Ein früher Winterabend senkte sich über Land und Meer. Reuben fragte sich, was Jim wohl hören, welche Gerüche er wahrnehmen konnte. Der Wald lebte, atmete, flüsterte, und über allem lag der Geruch von lebenden und toten Organismen. War es eine Art Gebet, eine Andacht? War es eine spirituelle Erfahrung? War es vielleicht sogar pure Spiritualität? Reuben wünschte, er könnte mit Jim darüber reden, aber das war unmöglich. Er konnte nicht erwarten, dass Jim sich jetzt auf eine philosophische Debatte einließ. Sein Blick wanderte über den Eichenwald zu den Redwoodbäumen, die jetzt gespenstische Schatten warfen. Die Abenddämmerung tauchte alles in unzählige Blautöne, und Reuben hatte mehr und mehr das Gefühl, mit dieser Welt da draußen zu verschmelzen. Er
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