Das Geschenk der Wölfe
zurück.
«Du darfst nichts von dem glauben, was Marrok dir erzählt hat», sagte Laura. «Er kann dich nach Strich und Faden belogen haben.»
Reuben sah stur geradeaus. Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass Marrok bereits im Haus gewesen war, bevor sie gestern heimgekehrt waren.
Kaum hatten sie sich in der Diele niedergelassen, entfaltete er den Brief mit gemischten Gefühlen. Dieser Brief war Eigentum eines Toten. Warum also sollte er Skrupel haben, ihn zu lesen?
Die merkwürdig geschwungene Handschrift kam ihm bekannt vor, obwohl er sie erst einmal gesehen hatte – oben, in Felix’ Tagebüchern.
Der Brief war drei Seiten lang. Natürlich konnte Reuben kein einziges Wort lesen. Aber es gab so etwas wie eine Unterschrift.
«Komm mit», sagte er zu Laura, führte sie in Felix’ kleines Arbeitszimmer und schaltete die Deckenlampe an.
«Sie sind weg», sagte er gleich darauf. «Felix’ Tagebücher. Sie lagen hier auf dem Schreibtisch.»
Er suchte alles ab, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Wer immer die Tontafeln gestohlen hatte, hatte auch Felix’ Tagebücher genommen.
Reuben sah Laura an. «Er lebt», sagte er. «Ich weiß es. Er lebt und hat diesem Marrok geschrieben, dass er herkommen soll, um …»
«Du kannst unmöglich wissen, was er geschrieben hat», sagte Laura. «Du weißt nicht mal sicher, ob dieser Brief überhaupt von Felix ist. Das Einzige, was feststeht, ist, dass diese Leute eine Geheimsprache verwenden.»
«Nein», widersprach Reuben. «Ich weiß es einfach. Er lebt. Er hat die ganze Zeit gelebt. Irgendwas hat ihn davon abgehalten, hierher zurückzukehren, sich zu erkennen zu geben und sein Eigentum wieder in Besitz zu nehmen. Vielleicht
wollte
er verschwinden. Vielleicht war er nicht mehr glaubwürdig. Er altert nämlich nicht. Er musste verschwinden. Obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, wie er Marchent und ihren Eltern das freiwillig antun konnte.»
Einen Moment lang war er ganz still und ließ den Blick über die tausend Dinge schweifen, die sich hier angesammelt hatten. Die Schreibtafeln, die Pinnwände … alles schien unverändert. Die verblasste Kreideschrift, die vergilbten Zeitungsausschnitte. Dann die verschiedenen Fotos mit dem stets lächelnden Felix, dem lächelnden Sergej und den anderen rätselhaften Männern.
«Ich muss ihn irgendwie erreichen, mit ihm sprechen, ihn um Verständnis dafür bitten, was mit mir passiert ist, ihm erklären, dass ich nicht wusste, worum es hier geht, dass ich …»
«Was hast du denn?», fragte Laura.
Reuben seufzte tief. «Diese innere Unruhe», sagte er. «Sie überfällt mich, wenn ich mich nicht verwandeln kann und die Stimmen nicht höre. Ich muss hier raus. Gehen. Mich bewegen. Wir können hier nicht bleiben und uns zur Zielscheibe machen, bis er zuschlägt.»
Nervös ging er auf und ab, den Blick suchend auf die Bücherregale gerichtet. Vielleicht gab es noch mehr persönliche Aufzeichnungen, die hier irgendwo zwischen den Büchern steckten. Er hatte die Regale bis jetzt nicht genau genug durchgesehen, um beurteilen zu können, ob auch hier etwas fehlte. War es Marrok, der hier eingedrungen und Dinge herausgeholt hatte? Oder Felix selbst?
Die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer, in dem Marchent und Reuben sich geliebt hatten, stand offen. Als er in die Richtung blickte, bekam er wieder ein Gespür für den Mann, der diese Zimmer einst bewohnt und das große Bett mit den schwarzen, kunstvoll geschnitzten Pfosten als Schlafstätte gewählt, die schwarze Quarzkatze neben die Nachttischlampe gestellt und an dem kleinen Intarsientisch neben dem Stuhl zuletzt Gedichte von Keats gelesen hatte.
Er griff nach dem Buch. Ein verblasstes, dunkelrotes Band markierte eine Seite, auf der ein Gedicht namens «Ode auf die Melancholie» stand. Die erste Strophe war mit schwarzer Tinte angestrichen, am Rand befand sich eine Zeichnung, die das Meer darzustellen schien, und Felix hatte einige Bemerkungen dazugeschrieben.
«Hier», sagte Reuben und reichte Laura das Buch. «Das hat er vor langer Zeit angestrichen.»
Sie nahm das Buch, rückte näher an die Lampe und las laut vor:
Du sollst nicht Lethe suchen, sollst nicht Wein
Aus harter giftiger Wolfsmilchwurzel klopfen,
Noch soll Proserpinas blutrote Pein,
Nachtschattentraube, deine Stirn umtropfen.
Dein Rosenkranz sei nicht aus Taxusperlen,
Dein Gram soll nicht zum flaumigen Kauz sich retten,
Im schwarzen Falter ein Symbol erblicken
Und klagend wandeln unter
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