Das Geschenk der Wölfe
Leben, das jetzt im Haus herrschte, an die ebenso beängstigenden wie wunderbaren Dinge, die ihm widerfahren waren. Es war ein Leben wie im Traum, das er jetzt führte.
Margon sah wieder auf und blickte in die Runde.
Alle hatten ihre stillen Gebete beendet, und es wurde lebhaft. Platten wurden herumgereicht, Wein nachgeschenkt, Brot gebuttert, das Fleisch in Scheiben geschnitten und auf blumenbemalte Porzellanteller verteilt, das Salatbesteck klapperte.
«Was kann ich für euch tun?», fragte Margon mit Blick auf Reuben und Stuart, als alle zu essen begannen. «Was braucht ihr auf der Reise, die ihr begonnen habt?»
Er nahm einen Schluck Wasser, weil er keinen Wein trank. Dann füllte er sich eine große Portion Brokkoli und Zucchini auf den Teller, nahm von dem Artischockensalat nach und brach ein Stück von seinem gebutterten Brot ab.
«Eins muss euch klar sein», fuhr er dann fort. «Eure Transformation ist unumkehrbar. Seit das Chrisam in euch wirksam geworden ist, seid ihr für immer und ewig Morphenkinder.»
Stuart hatte genauso schnell aufgehört zu weinen, wie er angefangen hatte. Hungrig stopfte er den Lammbraten in sich hinein, während er Margon mit großen Augen lauschte.
Margon sprach so freundlich und unaufdringlich wie am Vorabend. Trotzdem besaß er große Überzeugungskraft und konnte sich mühelos Respekt verschaffen. Das lag auch an seinem ausdrucksvollen, sonnengebräunten Gesicht mit den schwarzen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern eingefasst waren und sowohl seiner Miene als auch seinen Worten Intensität verliehen.
«Aber ich habe noch nie erlebt, dass jemand sich ernsthaft wünschte, seine Transformation hätte nicht stattgefunden», sagte er. «Trotzdem stürzt sie manchen ins Verderben, der seinen Jagdtrieb nicht kontrollieren kann und alle anderen Facetten des Lebens vernachlässigt. Solche Morphenkinder werden früher oder später von denen zur Strecke gebracht, die ihr frivoles Treiben nicht dulden können. Doch lasst euch davon nicht ängstigen. Ihr alle, wie ihr dasitzt», er sah insbesondere Laura an, «seid viel zu klug, um diesen Weg einzuschlagen. Ihr alle wisst das Geschenk der Wölfe zu schätzen und verantwortungsvoll damit umzugehen.»
Stuart wollte etwas fragen, aber Margon brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
«Lasst mich fortfahren», sagte er. «Das Chrisam wird fast immer unabsichtlich weitergegeben, und wir können es nur in Wolfsgestalt tun. Bislang hat mich mein menschliches Gewissen davor gewarnt, das Chrisam auf Menschen zu übertragen, die danach lechzten, aber nun bin ich gewillt, diese Zurückhaltung abzulegen. Wenn sich jemand als würdig erweist und mich darum bittet, werde ich das Chrisam an ihn weitergeben. Voraussetzung ist aber ein tiefempfundener Wunsch nach reiflicher Überlegung.» Er wandte den Blick von Laura ab und sah Reuben und Stuart an. «Ihr beide aber dürft das nicht tun. Die Verantwortung ist zu groß. Schicksalhafte Entscheidungen wie diese müsst ihr mir, Felix und Thibault oder Frank und Sergej überlassen, die sich bald zu uns gesellen werden.»
Reuben nickte. Er hatte schon überlegt, ob er Margon fragen sollte, was er davon hielte, Laura zu verwandeln, aber das schien nicht nötig zu sein. Es war deutlich zu sehen, dass Margon sie längst als eine der ihren betrachtete. Doch was das zu bedeuten hatte, war ihm unklar, und die Ungewissheit quälte ihn.
«Wir ihr alle wisst, kann das Chrisam tödlich sein», sagte Margon. «Das passiert jedoch selten.»
«Aber Marrok hat gesagt, das Chrisam sei in den meisten Fällen tödlich», wandte Reuben ein.
«Vergesst Marrok», sagte Margon. «Vermutlich hat das jemand zu ihm gesagt, um ihn in seinem Wunsch zu bremsen, die Welt mit Morphenkindern seiner Art zu bevölkern. Wir wissen nicht, was in seinem Kopf vorging.»
Er nahm einen Bissen von der Ente und dem Brot.
«Wenn das Chrisam an junge Männer und Frauen eures Alters weitergegeben wird», fuhr er dann fort, «und der Biss keine schwere Verletzung verursacht, besteht fast nie eine Gefahr. Vor allem, wenn es direkt ins Blut geht, vollzieht sich die Transformation meist binnen einer oder zwei Wochen. Obwohl es nichts mit dem Mond zu tun hat, verwandeln wir uns anfangs nur nachts, und es ist äußerst schwierig, die Verwandlung willentlich bei Tag herbeizuführen. Mit der Zeit werdet ihr aber auch das lernen, wenn ihr es wirklich wollt. Euer Ziel sollte sein, diesen Vorgang vollkommen zu beherrschen, denn andernfalls
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