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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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beherrscht er euch.»
    Reuben nickte und murmelte, das habe er schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren. «Aber ich dachte, es seien die Stimmen, die die Verwandlung fordern», sagte er. «Ich dachte, ich dürfte mich ihnen nicht verweigern.»
    «Zu den Stimmen komme ich noch», sagte Margon.
    «Aber warum hören wir sie?», fragte Stuart. «Warum hören wir Menschen, die schrecklich leiden und uns brauchen? Im Krankenhaus wäre ich davon fast verrückt geworden. All diese Menschen, die durch die Hölle zu gehen schienen und um Gnade flehten.»
    «Auch dazu komme ich noch», sagte Margon und sah Reuben an.
    «Sie haben bereits gelernt, den Vorgang zu kontrollieren. Ihr Jungen repräsentiert eine neue Generation und seid mit einer Kraft gesegnet, von der viele von uns nur träumen können. Bei euch ist das Chrisam auf einen gesunden Körper und ein Ausmaß an Vitalität getroffen, das es über die Jahrhunderte nur selten gab. Es ist wirklich ganz außergewöhnlich. Wenn diese Vorzüge dazu noch mit Intelligenz gepaart sind, entstehen ganz vorzügliche Morphenkinder.»
    «Schmeichle ihnen nicht zu sehr», warf Thibault ein. «Sie sind schon selbstbewusst genug.»
    «Gar nicht wahr!», protestierte Stuart und klopfte sich an die Brust. «Ich will aber perfekt werden.»
    «Wenn du Perfektion so definierst wie ich», sagte Margon, «musst du lernen, alle Aspekte des Wolfsgeschenks zu würdigen, und das ist weit mehr als nur das Geschenk der Verwandlung. Du darfst nicht vergessen, was dir als Mensch wichtig war und was du erreichen wolltest.» Dann wandte er sich an Reuben. «Sie, Reuben, sind ein Dichter, ein Schriftsteller, ein Chronist Ihrer Zeit. Das ist etwas sehr Wertvolles, nicht wahr?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: «Bevor ich dieses junge Morphenkind hier letzte Nacht in die Wälder führte, habe ich mich lange mit Ihrem Vater unterhalten. Von ihm haben Sie Ihre größten Talente geerbt – nicht von Ihrer brillanten Mutter, die Sie so aufrichtig lieben. Nein, der Mann, der immer an Ihrer Seite war, ohne sich je in den Vordergrund zu drängen, hat Ihre Liebe zur Sprache geprägt und damit Ihren Blick auf die Welt.»
    «Das stimmt», sagte Reuben. «Für meine Mutter war es eine große Enttäuschung, dass ich nicht Arzt werden wollte, genauso wenig wie mein Bruder.»
    «Ah, Ihr Bruder …», sagte Margon. «Dieser junge Mann ist mir ein Rätsel – ein Priester, der sich nichts sehnlicher wünscht, als an Gott glauben zu können, und es doch nicht schafft.»
    «Das geht vielen Menschen so», sagte Reuben. «Jedenfalls ist das mein Eindruck.»
    «Aber wie viele widmen ihr ganzes Leben einem Gott, der sich ihnen vielleicht niemals offenbart?», fragte Margon.
    «Hat er das je getan?», fragte Reuben zurück und sah Margon erwartungsvoll an.
    «Tausende behaupten, seine Stimme vernommen zu haben», sagte Margon.
    «Wirklich? Und verstehen sie auch, was er sagt?»
    «Wer will das entscheiden?», fragte Margon.
    «Es reicht, Margon!», mischte sich Felix zum ersten Mal in das Gespräch ein. «Du willst die jungen Wölfe doch wohl nicht in eine theologische Debatte verwickeln?»
    «Ich bitte vielmals um Verzeihung», sagte Margon sarkastisch, «wenn ich euch daran erinnert habe, dass die Menschen seit Tausenden von Jahren immer wieder behaupten, sie hätten die Stimme Gottes oder der Götter vernommen, dass sie ihren Glauben tief empfinden und als ein Bekenntnis zur Wahrheit verstehen.»
    «Nun gut», sagte Felix und nickte Margon zu. «Fahre mit deiner Lektion fort. Es wird mir nicht schaden, das alles noch einmal zu hören.»
    «Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ertrage», grummelte Thibault und zwinkerte Felix amüsiert zu.
    Margon lachte leise, und seine Augen sprühten, als er Thibault ansah. «Es war ein schwarzer Tag, als du einer von uns wurdest», sagte er gut gelaunt und schüttelte den Kopf. «Manchmal verfolgt mich dein dröhnender Bass bis in den Schlaf.»
    Thibault schien das gern zu hören.
    «Ich glaube, wir haben verstanden, was du sagen wolltest», sagte Felix. «Reuben ist der geborene Schriftsteller, vielleicht wird er der erste Chronist in unseren Reihen.»
    «Unsinn!», widersprach Thibault. «Schließlich bin ich nicht der Einzige, der sich auch an die unschönen Episoden unserer Geschichte erinnert.»
    «Hier geht es nicht um eine Chronik der Morphenkinder», sagte Margon und sah Stuart an, der sich gerade Kartoffeln nachnahm. «In Körper und Geist seid ihr sowohl Mensch als auch

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