Das Geschenk der Wölfe
Wolf, und beides im Gleichgewicht zu halten, sichert euch das Überleben. Mit Eitelkeit und Stolz hingegen macht ihr eure neuen Möglichkeiten zunichte oder bringt gar euer Leben in Gefahr.»
Reuben nickte. «Sie werden aber zugeben, dass unsere menschlichen Erfahrungen gegen die als Wolf verblassen, dass wir als Wölfe intensiver empfinden», sagte er und dachte, dass der Begriff, den er selbst geprägt hatte, am besten ausdrückte, was er meinte: das Geschenk der Wölfe.
«Wie oft werde ich mich denn nun nachts unfreiwillig verwandeln?», fragte Stuart.
«Versuche zu widerstehen», sagte Thibault. «Du wirst überrascht sein, was du alles erreichen kannst.»
«Aber noch ist es zu früh, um zu widerstehen», sagte Margon. «Die nächsten zwei Wochen etwa wirst du dich jeden Abend verwandeln. Reuben konnte es bereits am zehnten oder elften Abend kontrollieren – aber nur weil er sein Wolfsdasein in den Nächten zuvor exzessiv ausgelebt hatte.»
«Das kann man wohl sagen», sagte Thibault.
«Sobald du es beherrschst», sagte Felix, «werden dir – wie vielen von uns – etwa sieben Verwandlungen pro Monat genügen, um deine Kraft zu erhalten und dich seelisch ausgeglichen zu fühlen. Aber du kannst lernen, die Verwandlung für einen beliebig langen Zeitraum zu unterdrücken. Die meisten haben einen individuellen Rhythmus. Die Stimmen hingegen, die Stimmen von Menschen in Not, können uns jederzeit aus der Reserve locken.» Er sah Stuart mitfühlend an. «Für den Anfang musst du dich aber darauf einstellen, dass es zwei Wochen lang jeden Abend passiert, denn das Chrisam ist noch hochaktiv und macht mit deinen Körperzellen, was es will.»
«Körperzellen …», sagte Reuben nachdenklich und sah Laura fragend an. «Was hat Marrok noch mal darüber gesagt?»
«Er sprach von pluripotenten Stammzellen, die das Chrisam direkt aufnehmen und dann mutieren», sagte Laura.
«Schon klar», sagte Stuart.
«Jedenfalls ist das die Theorie», sagte Felix. «Die Forschung auf diesem Gebiet hat gerade erst begonnen.» Er trank einen Schluck Wein und lehnte sich zurück.
«Bis heute ist nicht klar definiert, was eigentlich in uns vorgeht», sagte Thibault. «Am Beginn der modernen Wissenschaft stürzten wir uns auf das neue analytische Vokabular, rüsteten unsere Labors auf und stellten Leute ein, die gar nicht wussten, für wen sie arbeiteten. Wir hofften, endlich alles erforschen zu können, was unsere Beschaffenheit betrifft, aber weit sind wir auf diesem Weg nicht gekommen. Das meiste, was wir wissen, haben wir durch Selbstbeobachtung herausgefunden.»
«Mich interessiert am meisten, wie eigentlich alles angefangen hat», sagte Stuart und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Gibt es uns schon immer? Ich meine, konnten Menschen immer schon Werwölfe werden? Was wissen Sie darüber, Margon?»
«Darauf gibt es eine Antwort», sagte Margon ausweichend und wollte sie offenbar nicht geben.
«Wer war das erste Morphenkind?», hakte Stuart nach. «Kommen Sie schon! Sie müssen doch was über unsere Entstehungsgeschichte wissen!»
Alle schwiegen und warteten auf Margons Antwort.
Der überlegte und schien sich in seiner Haut nicht recht wohlzufühlen.
Schließlich sagte er: «Unsere frühe Geschichte ist leider nicht besonders inspirierend. Wichtig ist nur, dass ihr jungen Wölfe lernt, mit euren neuen Möglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen.»
Es war offensichtlich, dass Margon etwas zurückhielt.
Laura wechselte das Thema und fragte: «Wird der Hunger mit der Zeit größer, das Verlangen, auf die Jagd zu gehen und sich rohes Fleisch einzuverleiben?»
«Nein», sagte Margon. «Es ist immer in uns. Wir fühlen uns kraftlos und geistig verarmt, wenn wir diesem Verlangen nicht von Zeit zu Zeit nachgeben, und zwar von Anfang an. Es gibt aber auch Phasen, in denen wir dieser Dinge überdrüssig werden, über längere Zeit inaktiv bleiben und die Stimmen ignorieren.»
«Und die körperliche Kraft?», fragte Laura weiter. «Nimmt sie mit der Zeit zu?»
«Wir werden immer geschickter», sagte Margon. «Und weiser. Unsere Körper verjüngen sich permanent, sodass unsere körperlichen Fähigkeiten konstant bleiben. Das heißt also: Nein, immer stärker werden wir nicht.»
Reuben trank einen Schluck Wein, dann sagte er: «Die Stimmen … Können wir jetzt darüber reden?» Er hatte lange genug darauf gewartet. «Warum hören wir sie? Ich kann ja verstehen, dass wir als Wölfe besser hören können, aber warum
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