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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verwandeln wir uns, wenn wir die Stimmen von Menschen in Not hören? Und warum bringen unsere Stammzellen eine Veränderung in uns hervor, die uns das Böse und Gewalt riechen lässt? Warum haben wir den unwiderstehlichen Impuls, dieses Böse zu beseitigen?» Reuben legte seine Serviette auf den Tisch und sah Margon, Felix und Thibault an. «Ihnen ist es doch sicher genauso ergangen, oder?»
    «Das stimmt», sagte Thibault. «Es ist unsere Natur. Wir riechen das Böse und haben das unwiderstehliche Verlangen, es auszulöschen. Wir können zwischen einem unschuldigen Opfer und uns selbst nicht unterscheiden. Für uns ist es ein und dasselbe. Was das Opfer zu erleiden hat, haben wir selbst zu erleiden.»
    «Ist es gottgegeben?», fragte Stuart. «Wollen Sie das etwa behaupten?»
    «Im Gegenteil», sagte Thibault. «Unsere Fähigkeiten haben sich mit der Zeit entwickelt. Es ist Biologie und Chemie.»
    «Aber warum funktioniert es auf diese Weise?», fragte Reuben. «Genauso gut könnten wir das Verlangen haben, uns auf die unschuldigen Opfer zu stürzen und sie zu verschlingen. Wahrscheinlich schmecken sie sogar besser.»
    Margon lächelte. «Versuchen Sie’s gar nicht erst», sagte er. «Sie würden es nicht übers Herz bringen.»
    «Ich weiß», sagte Reuben. «Das war Marroks Ruin. Er konnte sich nicht überwinden, Laura zu töten.»
    Margon nickte.
    «Wie alt war er eigentlich?», fragte Reuben. «Wie erfahren war er? Hätte er nicht in der Lage sein müssen, uns beide zu besiegen?»
    Wieder nickte Margon. «Im Grunde wollte Marrok wohl sterben. Er war erschöpft und wurde immer unvorsichtiger. Am Ende war er nur noch ein Schatten seiner selbst.»
    «Es überrascht mich nicht, das zu hören», sagte Laura. «Er hat uns beinahe aufgefordert, ihn zu töten. Er konnte einfach nichts gegen uns unternehmen, ohne uns wenigstens zur Gegenwehr aufzufordern.»
    «Genau», sagte Reuben. «Und als wir den Kampf dann aufnahmen, waren wir ihm zu zweit einfach überlegen. Das muss er von vornherein gewusst haben.»
    «Kann mir mal jemand verraten, wer dieser Marrok überhaupt war?», fragte Stuart.
    «Er ist Geschichte», sagte Margon. «Er hatte seine Gründe, Reuben zu hassen. Ungewollt hatte er das Chrisam weitergegeben, und er glaubte, seinen Fehler wettmachen zu müssen, indem er Reuben tötete.»
    «Auch ich habe das Chrisam ungewollt weitergegeben», sagte Reuben leise.
    «Ja, aber Sie sind jung und unerfahren», sagte Thibault. «Marrok war alt und erfahren.»
    «Dadurch hat mein Leben erst Drive gekriegt», sagte Stuart ganz begeistert. «Jetzt ist endlich was los.»
    Margon und Felix lachten.
    «Mal im Ernst», sagte Reuben. «Warum schützen wir die Opfer? Warum ist es uns so wichtig zu verhindern, dass sie getötet, gefoltert oder vergewaltigt werden?»
    «Diese jungen Wölfe …», sagte Margon halb belustigt, halb gereizt. «Sie wollen immer alles ganz genau wissen und erwarten moralische Antworten. Ich wünschte, ich könnte Ihnen welche geben. Stattdessen muss ich Sie auf die Evolution verweisen. Es hat sich einfach so entwickelt.»
    «Sie meinen, die Evolution der Morphenkinder?», fragte Reuben.
    «Nicht nur», sagte Margon und schüttelte den Kopf. «Ich meine die Evolution der gesamten Spezies, die uns unsere Kraft gibt. Dabei handelt es sich nicht um
Homo sapiens sapiens
wie wir, sondern um eine andere Art, die eher dem
Homo ergaster
oder dem
Homo erectus
ähnelte. Sind diese Begriffe allgemein bekannt?»
    «Klar», sagte Stuart. «So was hatte ich, ehrlich gesagt, schon vermutet. Es geht um eine Art, die ganz isoliert war, irgendwo in der hintersten Pampa, richtig? Wie der
Homo floresiensis
, diese Hobbits in Indonesien – Humanoide, die sich von allen anderen Arten unterscheiden.»
    «Was sind denn Hobbits?», fragte Thibault.
    «Er meint Kleinwüchsige», sagte Laura. «Kaum einen Meter groß. Vor wenigen Jahren wurden Skelette gefunden, die belegen, dass es sich um eine völlig andere Art als den
Homo sapiens sapiens
handelt.»
    «Stimmt», sagte Reuben. «Ich erinnere mich.»
    «Ich würde gern mehr über diese Art wissen, die uns unsere Kraft gibt», sagte Stuart und sah Margon an.
    Es war Margon anzusehen, dass er nicht gern darüber sprechen wollte. Er räusperte sich und sagte: «Lasst uns erst in Ruhe unser Mahl beenden. Ich muss meine Gedanken sammeln.»

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    S ervierplatten und Geschirr wurden in die Küche gebracht. Wieder halfen alle mit, füllten Wasserkrüge und

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