Das Geschenk der Wölfe
hilfloser alter Mann, ein Kranker, der genau wie die Frau zahlreiche Wunden hatte und ans Bett gefesselt war.
Reuben sah sich um und betätigte den Lichtschalter, damit die anrückenden Helfer auch den Mann fanden.
Was konnte er sonst noch tun, um diesen armen Menschen zu helfen?
Im Treppenhaus sah er sich bei schwachem Licht in einem hohen vergoldeten Spiegel und schlug ihn ein. Die Scherben fielen klirrend zu Boden.
Er nahm eine altmodische Lampe mit gläsernem Schirm von einem Tischchen und warf sie übers Treppengeländer, sodass sie unten in der Diele zersplitterte.
Sirenen näherten sich. Das Geräusch erinnerte Reuben an Mendocino.
Er wurde nicht mehr gebraucht und machte, dass er aus dem Haus kam.
Lange blieb er im Wipfel einer hohen Zypresse im Buena Vista Park sitzen. Die meisten Bäume hier waren noch jung, aber er hatte einen gefunden, dessen Äste ihn sicher trugen. Durch das Laub beobachtete er Krankenwagen und Einsatzfahrzeuge der Polizei vor der Villa und sah, wie der alte Mann und die alte Frau abtransportiert wurden. Er sah auch, wie die Leiche der Täterin vom Straßenpflaster aufgehoben wurde. Schaulustige waren zusammengelaufen, aber bald leerte sich die Straße wieder.
Plötzlich fühlte er sich völlig erschöpft. Der Schmerz in der Schulter war verschwunden, und er hatte ihn bereits vergessen. Er merkte, dass seine Pfoten anders empfanden als seine Menschenhände, denn sie fühlten nicht, was die zähe Flüssigkeit war, die sein Fell verklebte.
Von Sekunde zu Sekunde wurde er müder und schwächer. Trotzdem schaffte er es noch, schnell nach Hause zu laufen.
Zurück in seinem Zimmer, stellte er sich wieder vor den Badezimmerspiegel.
«Gibt’s was Neues?», fragte er sein Spiegelbild. «Wie tief deine Stimme ist.»
Die Rückverwandlung begann.
Er griff in das weiche Fell zwischen seinen Beinen, als es sich zurückzog und dann ganz verschwand. Seine Pfoten wurden zu Händen, und er tastete nach seiner Schulterwunde.
Er konnte sie nicht finden.
Er war jetzt so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, aber er wollte sich Gewissheit verschaffen und trat näher an den Spiegel. Keine Wunde. Und die Kugel? Steckte sie vielleicht in seinem Körper? Wenn ja, konnte es zu einer Infektion kommen, die, wenn sie nicht behandelt wurde, tödlich verlaufen konnte. Zu sehen oder zu spüren war aber nichts.
Beinahe hätte er laut gelacht, als er sich vorstellte, wie Grace reagieren würde, wenn er zu ihr sagte: «Hör mal, Mom, ich glaube, letzte Nacht hat jemand auf mich geschossen. Kannst du mich mal röntgen und nachsehen, ob eine Kugel in meiner Schulter steckt? Aber mach dir keine Sorgen, ich spüre überhaupt nichts.»
Aber selbstverständlich würde er das nicht tun.
Er ließ sich ins Bett fallen. Wie wunderbar frisch sein Kissen roch! Als der Himmel bleiern aufhellte, schlief er ein.
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8
U m zehn wachte Reuben auf, duschte und rasierte sich, dann fuhr er in Simon Olivers Büro, um die Schlüssel von Kap Nideck abzuholen. Nein, sagte Simon, Marchents Anwälte hätten nichts dagegen, dass er das Haus beträte, bevor es rechtlich in seinen Besitz übergegangen sei. Es sei sogar so, dass der Mann, der dort nach dem Rechten sah, gern mit ihm sprechen wolle, weil ein paar dringende Reparaturen anstünden. Je eher er komme, desto besser. Bei der Gelegenheit solle er bitte gleich eine eigene Inventarliste erstellen. Man habe ja überhaupt keinen Überblick über «das ganze Zeugs da oben».
Kurze Zeit später machte Reuben sich auf den Weg und fuhr über die Golden Gate Bridge Richtung Mendocino. Es regnete immer noch, aber nicht stark. Der Wagen war vollgestopft mit Kleidung, einem Computer, mehreren DVD -Playern und anderen Dingen, die er schon mal in sein neues Heim bringen wollte.
Nichts brauchte er jetzt mehr als ein wenig Zeit für sich. Heute Nacht wollte er mit seinen neuen Kräften und Fähigkeiten allein sein, genau darauf achten, was mit ihm passierte, und versuchen, Kontrolle darüber zu gewinnen. Vielleicht konnte er die Verwandlung ja verhindern, sie abmildern oder in eine bestimmte Richtung lenken. Und vielleicht konnte er sie sogar willentlich herbeiführen.
Aber was auch immer heute Nacht passieren würde, sollte in Ruhe geschehen, ohne die Stimmen, die ihn dazu gebracht hatten, Menschen umzubringen. Er hatte keine Wahl. Er musste raus aus der Großstadt.
Und dann gab es ja auch immer noch die Möglichkeit, dass dort ein Wesen in
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