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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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die breite Straße, als er in die hohen Eukalyptusbäume des Panhandle-Park sprang.
    In größtmöglicher Höhe bahnte er sich seinen Weg und sog den würzigen Duft der schmalen blassgrünen Eukalyptusblätter ein. Er folgte dem Grünstreifen mit geschmeidigen Bewegungen und begann vor Lust beinahe laut zu singen. Bald schwang er sich dann wieder auf die Dächer der hügelig ansteigenden Masonic Avenue.
    Wer hätte ihn in der Dunkelheit und bei diesem Wetter bemerken sollen? Der Regen war sein Freund. Selbst auf den schlüpfrigen Dachziegeln fand er sicheren Halt und eilte auf ein weiteres Waldgebiet zu, den Buena Vista Park.
    Aus dem vielstimmigen Chor der Stimmen, die er ständig hörte, war wieder eine hervorgetreten: «Sterben! Lass mich sterben! Töte mich!»
    Diese Worte wurden zwar nicht ausgesprochen, aber eine gequälte Kreatur dachte und empfand sie, das konnte Reuben deutlich wahrnehmen.
    Er landete auf dem Dach des Hauses, in dem sich das Opfer befand. Die vierstöckige Villa stand auf dem Hügel, der zu dem kleinen Park führte. An Regenrinne und Fenstersimsen ließ er sich die Hauswand hinab, bis sich hinter einem Fenster eine grauenvolle Szenerie auftat: Eine alte Frau, nur noch Haut und Knochen, blutete aus mehreren Wunden. Sie war an ein Messingbett gefesselt. Das Licht einer schwachen Lampe fiel auf ihr schütteres graues Haar und ihre wunde Haut.
    Vor ihr stand ein Teller mit dampfenden menschlichen Exkrementen, und eine junge Frau beugte sich mit einem Löffel in der Hand über die Alte und schmierte ihr den stinkenden Unrat auf die Lippen. Die alte Frau schüttelte sich und war der Ohnmacht nahe. Es stank nach Fäkalien, nach dem Bösen und nach Grausamkeit. Die junge Frau schimpfte verbittert vor sich hin.
    «Das ist für den Schweinefraß, den du mir immer zu essen gegeben hast. Jetzt musst du dafür bezahlen.»
    Reuben zerbrach das Fensterkreuz und die Scheiben, als er in das Zimmer sprang.
    Die junge Frau schrie auf und wich vom Bett zurück. Sie sah unglaublich wütend aus.
    Reuben stürzte sich auf sie, als sie eine Pistole aus einer Schublade holte.
    Ein Schuss ging los und machte ihn einen Moment lang taub. Gleichzeitig spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter, der ihn außer Gefecht zu setzen drohte, doch er ignorierte ihn. Mit wütendem Knurren schnappte er nach der jungen Frau, die vor Schreck die Waffe fallen ließ. Er stieß sie krachend an eine Wand. Ihr Kopf schlug ein Loch in die Wand, und Reuben spürte, wie das Leben aus ihr wich. Auch die Flüche auf ihren Lippen erstarben.
    Er schleuderte sie durch das kaputte Fenster und hörte ihren Körper auf dem Straßenpflaster aufschlagen.
    Reglos blieb er stehen und wartete darauf, den Schmerz in der Schulter wieder zu spüren, doch er blieb aus. Da war nichts als pulsierende Wärme.
    Er ging auf die gequälte Frau zu, die mit Klebestreifen und Mullbinden ans Bett gefesselt war. Vorsichtig band er ihre Hände los.
    Sie hatte das schmale Gesicht abgewandt und betete leise: «Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.»
    Reuben beugte sich über sie und löste die letzte Fessel um ihren Leib.
    «Heilige Maria, Mutter Gottes», sagte er leise und sah der Frau in die Augen. «Bitte für uns Sünder – uns Sünder! – jetzt und in der Stunde unseres Todes.»
    Die Frau stöhnte. Sie war zu schwach, um sich bequem zurechtzulegen oder aufzustehen.
    Reuben verließ sie und schlich durch das Treppenhaus in ein großes Zimmer, in dem sich ein Telefon befand. Es war nicht einfach, mit den Klauen eine Nummer zu wählen. Amüsiert dachte er an die Kreatur in Mendocino, die dieselbe Nummer aufs Display eines iPhones getippt hatte. Als sich die Notrufzentrale meldete, hätte er am liebsten «Mord! Mord!» geschrien, doch er beherrschte sich und hasste sich plötzlich dafür, dass er der Situation eine gewisse Komik abgewinnen konnte. Außerdem stimmte es nicht. Noch war hier kein Mord geschehen. «Einen Krankenwagen. Einbruch. Alte Frau. Oberstes Stockwerk. Wird gefangen gehalten.»
    Der Mann von der Notrufzentrale stellte einige Fragen und wiederholte dann die Adresse.
    «Schnell!», sagte Reuben und verließ das Zimmer, ohne den Hörer wieder aufzulegen.
    Er horchte.
    Außer der alten Frau war nur eine weitere Person im Haus. Diese andere Person schlief.
    Im nächsten Moment war Reuben bei ihr, im zweiten Stock. Es war ein

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