Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Straßenzüge in Windeseile hinter sich. Die größeren Häuser dienten ihm als Absprungbasen, über die kleineren flog er hinweg. Mühelos sprang er über breite Straßen. Es ging Richtung Meer.
    Die Stimme wurde lauter, und eine zweite gesellte sich hinzu. Dann schrie das Opfer plötzlich: «Ich verrate euch nichts. Selbst wenn ich sterben muss, verrate ich euch nichts.»
    Reuben wusste jetzt, wo er war. Er hatte seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, als er durch Haight-Ashbury jagte. Vor sich sah er das große dunkle Rechteck des Golden Gate Park. Das musste der Wald sein, den er gerade gesehen hatte, der urwaldartige Teil des Parks mit seinen versteckten Höhlen. Natürlich, das war’s!
    Er stürzte sich in den Park. Zuerst hastete er über das nasse Gras, dann schwang er sich in die würzig duftenden Bäume.
    Bald sah er den zerlumpten alten Mann, der vor seinen Verfolgern zu fliehen versuchte, durch einen Tunnel, der von Farnkraut halb verborgen war. Andere zerlumpte Menschen hockten unter regennassen Planen und durchweichten Pappen.
    Einer der Angreifer packte den Fliehenden an der Schulter und zog ihn auf eine kleine Lichtung. Ihre Kleidung war vollkommen durchnässt. Der andere Angreifer war stehen geblieben und versuchte, zusammengerollte Zeitungen in Brand zu setzen, aber der Regen löschte die Flammen.
    «Das Petroleum!», schrie der Mann, der das Opfer festhielt.
    Der alte Mann versuchte sich nach Kräften zu wehren, schlug und trat um sich. «Aus mir kriegt ihr nichts heraus!», schrie er verzweifelt.
    «Dann nimmst du dein Geheimnis mit ins Grab, alter Mann.»
    Der Geruch von Petroleum mischte sich mit dem Geruch des Bösen, als der zweite Angreifer seine Fackel tränkte und eine Flamme aufloderte.
    Mit entsetzlichem Gebrüll stürzte sich Reuben auf den Fackelträger und senkte seine Klauen so kraftvoll in dessen Hals, dass er ihm beinahe den Kopf abgerissen hätte. Reuben hörte sein Genick knacken.
    Dann wandte er sich dem anderen Angreifer zu, der das zitternde Opfer losgelassen hatte und über die Lichtung rannte, um sich im dahinterliegenden Wald zu verstecken.
    Reuben holte ihn ein. Sein Mund öffnete sich wie von allein. Er wollte nur eins: diesem Mann das Herz herausbeißen. Sein Mund lechzte nach ihm. Doch nein! Nicht die Zähne einsetzen, denn sie konnten dem Gebissenen vielleicht die Wolfsgabe verleihen. Nein, das durfte er nicht riskieren. Sein Knurren klang wie ein Fluch, als er an dem hilflosen Mann zerrte. «Du hättest ihn bei lebendigem Leibe verbrannt, nicht wahr?» Er schlug seine Klauen in den Mann und riss ihm das Fleisch vom Gesicht und die Haut von der Brust. Als Nächstes fuhren seine Klauen in die Halsschlagader des Mannes, und das Blut spritzte heraus. Der Mann sank auf die Knie und fiel vornüber, während seine Jeansjacke von Blut durchtränkt wurde.
    Reuben eilte zurück. Das Petroleum hatte sich übers Gras ergossen und brannte, züngelte und rauchte in den Regen, sodass die ganze Szenerie in ein gespenstisches Licht getaucht wurde.
    Der alte Mann hockte zusammengekauert am Boden, hatte schützend die Arme um den Körper gelegt und schaute mit angstgeweiteten Augen zu Reuben auf. Reuben sah, dass der peitschende Regen ihm zusetzte, aber er selbst spürte den Regen nicht.
    Er ging auf den Mann zu und streckte eine Pfote nach ihm aus, um ihm aufzuhelfen. Eine große Ruhe war über ihn gekommen, ein Gefühl von Macht. Das Feuer, das in seiner Nähe tobte, wärmte ihn, konnte ihm aber nichts anhaben.
    Im Unterholz herrschte reges Treiben, und aufgeregtes Geflüster drang an Reubens Ohr. Der Tenor war Angst, nackte Angst.
    «Wo wollen Sie jetzt hin?», fragte Reuben.
    Der alte Mann zeigte auf den dunklen Eichenwald. Reuben hob ihn hoch und trug ihn unter die schützenden Äste, wo der Boden trocken war und frisch duftete. Das dichte Blattwerk bildete einen Vorhang, hinter dem sich eine Hütte aus zusammengestückelten Teerpappen befand, von Gestrüpp und hohem Farn halb verborgen. Reuben legte den Mann in seine Liegestatt aus Lumpen und Wolldecken und deckte ihn zu.
    Es roch nach Dreck und Whisky, und die Aromen der nassen Erde und Pflanzen mischten sich darunter, ebenso der Geruch von Käfern und Insekten.
    Schnell entfernte sich Reuben und erklomm wieder die Baumwipfel. Er hangelte sich von Ast zu Ast, bis der Wald in Richtung Stanyan Street, wo ein unablässiger Verkehrsstrom den östlichen Rand des Golden Gate Park passierte, wieder dichter wurde.
    Er flog nahezu über

Weitere Kostenlose Bücher