Das Geschenk der Wölfe
Expresslieferung zum nächsten Tag.
Er wusste, dass er nach einem Strohhalm suchte.
Felix war schon lange tot. Wahrscheinlich war auch Margon längst tot. Marchent hatte lange genug nach ihnen gesucht. Das Tier, was immer es war, war aus dem angrenzenden Wald gekommen und durch die eingeschlagenen Fenster des Esszimmers ins Haus eingedrungen. Es hatte die Schreie gehört, sie waren ja laut genug gewesen. Und es hatte das Böse gerochen, wie man das Böse eben riechen kann.
Alles andere war romantischer Unsinn!
Plötzlich machte es Reuben ganz traurig, dass Felix tot war. Vielleicht war es doch kein Zufall, dass sein Name in der Geschichte über einen Wolfsmenschen auftauchte. Was, wenn tatsächlich ein mutierter Cousin von ihm im Wald hinter dem Haus lebte … als eine Art Wächter oder guter Geist des Hauses?
Reuben merkte, dass er müde wurde.
Dann wurde ihm plötzlich ganz warm ums Herz. Das Feuer brannte, vor dem Fenster floss der Regen glucksend in die Regenrinne. Ihm war durch und durch warm, und er fühlte sich regelrecht beschwingt. Die Stimmen der Stadt murmelten leise vor sich hin und gaben ihm das Gefühl, mit der ganzen Welt verbunden zu sein. Hmmm. Es war das Gegenteil der Entfremdung, die er empfunden hatte, als er vorhin beim
Observer
mit ganz normalen Menschen gesprochen hatte.
«Vielleicht gehörst du jetzt zu ihnen», flüsterte er. Die Stimmen bildeten einen einheitlichen Klangteppich. Einzelne Worte, Schreie, Bitten drangen nicht an die Oberfläche.
Gott, wie muss es sich anfühlen, du zu sein und alle Menschen jederzeit zu hören, überall auf der Welt, wie sie betteln, flehen und nach allem Möglichen rufen.
Reuben sah auf die Uhr.
Es war kurz nach zehn. Sollte er einfach in seinen Porsche steigen und nach Kap Nideck fahren? Die Fahrt war nicht schlimm. Ein paar Stunden durch den strömenden Regen. Irgendwie könnte er sich bestimmt Zutritt zum Haus verschaffen, zur Not eine der kleineren Scheiben einschlagen. Wo war das Problem? In wenigen Wochen würde ihm das Haus ohnehin gehören. Die entsprechenden Dokumente waren alle unterschrieben. Er hatte sogar schon die Bezahlung des Hauspersonals übernommen, die Kosten für Strom, Wasser und dergleichen. Es gab also keinen Grund, nicht hinzufahren.
Und der Wolfsmensch dort im Wald? Würde er von Reubens Anwesenheit Wind bekommen? Würde er riechen, dass der, den er gebissen und dann verschont hatte, zurückgekehrt war?
Alles in ihm schrie danach, nach Kap Nideck zu fahren.
Dann erschreckte ihn etwas. Eigentlich war es kein Geräusch, sondern etwas wie … ein Vibrieren, als führe ein Wagen mit dröhnender Musik am Haus vorbei.
Er sah einen dunklen Wald, aber es war nicht der Wald von Mendocino. Nein, es war ein anderer, ein nebliger, dichter Wald, den er kannte. Seine Alarmglocken schrillten.
Er stand auf und öffnete die Terrassentür.
Es war windig und bitterkalt. Der Regen klatschte ihm auf Gesicht und Hände – der reinste Jungbrunnen.
Die Stadt schimmerte unter einem Regenschleier. Jedes hell erleuchtete Hochhaus war ein Schmuckstück. Reuben hörte eine Stimme, die ihm ins Ohr zu flüstern schien: «Verbrenne ihn! Verbrenne sie alle!» Es war eine unkultivierte, hasserfüllte Stimme.
Sein Herz klopfte wie wild, jeder Muskel in seinem Körper schien sich anzuspannen. Ein Schauder lief über seine Haut. Fontänengleich schoss es in ihm hinauf und drückte sein Kreuz durch.
Es hatte wieder angefangen. Sein Wolfsfell begann zu sprießen, die Mähne auf seinem Kopf wuchs, bis sie ihm auf die Schultern hing. Wellen orgiastischer Lust durchfluteten ihn, ließen ihn jede Vorsicht vergessen, und ein beglücktes Jauchzen entfuhr seiner Kehle.
Seine Hände wurden zu Klauen. Er riss sich die Kleider vom Leib und schleuderte seine Schuhe fort. Dann fuhr er sich mit den Klauen über das dichte Fell an Armen und Brust.
Die Geräusche der Nacht waren jetzt viel deutlicher, der Chor der Stimmen wurde lauter und mischte sich mit Glockenschlägen, Musikfetzen und verzweifelten Gebeten. Er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, der Enge des Hauses zu entfliehen und in die Dunkelheit zu springen, egal, wo er landen würde.
Moment! Fotografiere es! Geh zum Spiegel und halte es fest. Doch dafür hatte er keine Zeit, denn er hörte wieder die hasserfüllte Stimme: «Wir verbrennen dich bei lebendigem Leib, alter Mann!»
Reuben sprang aufs Dach. Der Regen konnte ihm nichts anhaben.
Er sprintete in Richtung der Stimme und ließ ganze
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