Das Geschenk der Wölfe
Goldenwood-Entführung und der Wolfsmensch, und kein noch so billiger Witz über «die Bestie» und die Zeugen, die sie angeblich ganz genau gesehen hatten, wurde ausgelassen. Meist wurde aber nicht von einer «Bestie» gesprochen, sondern von einem «Wolfsmenschen». Doch auch «Yeti» oder «Bigfoot» war zu hören, einmal sogar «Gorilla». Ein Sprecher von National Public Radio verglich das rätselhafte Wüten dieser Kreatur mit dem Unwesen, das der Orang-Utan in Edgar Allan Poes
Der Doppelmord in der Rue Morgue
trieb, was die Frage aufwarf, ob die Bestie nicht von einem Menschen gesteuert sein könnte oder gar ein besonders großer, starker Mensch in einem Tierkostüm dahinterstecke.
Je mehr Reuben hörte, desto mehr gewann er den Eindruck, dass sich langsam die Vorstellung durchsetzte, bei der Bestie handelte es sich um einen verkleideten Menschen. Dass Tatorte und Zeugenaussagen ein anderes Bild ergaben, schienen die Menschen nicht wahrhaben zu wollen. Außerdem schien niemandem aufzufallen, dass die Kreatur offenbar einen sechsten Sinn für Verbrechen hatte. Vielmehr glaubte man offenbar, dieses Wesen sei zufällig auf die Gewaltakte gestoßen, die es dann im letzten Moment verhindert hatte. Niemand kam jedoch auf die Idee, dass es sich aufmachen und die Goldenwood-Entführer stellen sollte. Niemand außer Billie. Und Reuben selbst.
Er sollte wirklich versuchen, die Kinder zu finden. Ja, er sollte umkehren und lieber nach Marin County fahren, um nach den Kindern und den drei entführten Lehrerinnen zu suchen.
Immer wieder musste er daran denken. Bestimmt befanden sie sich noch in Marin County, denn fünfundvierzig Menschen konnte man gegen ihren Willen ja wohl nicht sehr weit transportieren.
Im Radio regte sich ein Talkshowmoderator darüber auf, dass die Goldenwood-Entführung nicht das Thema Nummer eins war. Und die Eltern eines entführten Kindes kritisierten das FBI und den örtlichen Sheriff für die Verweigerung des Lösegelds.
Die ungeheure Kraft, die Reuben in der letzten Nacht so genossen hatte, schien ihm plötzlich ganz nutzlos zu sein, wenn er an die vermissten Kinder und die verzweifelten Eltern dachte, die in der Goldenwood Academy hinter verschlossenen Türen weinten. Er sollte wirklich … Doch wie? Sollte er die abgelegeneren Straßen der Gegend abfahren und mit seinem Wolfsgehör auf Hilferufe der Opfer lauschen?
Das Problem war nur, dass sein Gehör tagsüber nicht besonders ausgeprägt war. Erst wenn es Nacht wurde, hörte er die Stimmen klar und deutlich, und bis dahin vergingen noch viele Stunden.
Je weiter er nach Norden vordrang, desto heftiger regnete es. Über weite Strecken fuhren die Leute schon mit Licht, weil die Sicht so schlecht war. Als der Verkehr in Sonoma County langsamer und dichter wurde, machte er sich klar, dass er es nicht schaffen würde, vor Einbruch der Dunkelheit nach Kap Nideck und wieder zurück zu fahren. Es war einer dieser Tage, an denen schon mittags um zwei Zwielicht herrschte.
In Santa Rosa verließ er den Highway und suchte auf seinem iPhone die Adresse der nächstgelegenen Filiale von Big Man XL , einer Ladenkette für Herrenbekleidung in Übergröße, und kaufte zwei der größten am Lager befindlichen Regenmäntel, einen braunen Trenchcoat, der ihm sogar gefiel, einige Jogginghosen und drei Kapuzenshirts. In einem Laden für Sportartikel kaufte er ein paar Skimasken und die größten Fausthandschuhe, die er finden konnte. Dann besorgte er sich fünf braune Kaschmirschals, mit denen er den Teil seines Gesichts verdecken konnte, der unter einer großen Sonnenbrille noch frei geblieben wäre, falls er mit den Skimasken nicht zurechtkäme oder zu furchterregend damit aussähe. Eine große Sonnenbrille fand er in einer Drogerie.
Bei Walmart kaufte er sich das größte Paar Gummistiefel, das er finden konnte.
All das war ziemlich aufregend.
Zurück im Auto, schaltete er wieder das Radio ein. Der Regen hatte sich mittlerweile zu einem wahren Wolkenbruch entwickelt. Der Verkehr floss stockend bis gar nicht. Es war abzusehen, dass er die Nacht in Mendocino verbringen würde.
Gegen vier Uhr erreichte er den Waldweg, der direkt zu Marchents Haus führte – zu
unserem Haus
, dachte er.
Im Radio wurde berichtet, dass die Tote vom Buena Vista Hill eine entfernte Verwandte des älteren Ehepaars war, das von ihr so schrecklich gefoltert worden war. Ihre eigene Mutter war unter mysteriösen Umständen vor zwei Jahren gestorben. Die beiden Toten im Golden
Weitere Kostenlose Bücher