Das Geschenk des Osiris
sahen wir eine Gestalt eilig in Richtung des Flusses laufen. Meine Männer wollten den Mann gefangen nehmen, so wie du es uns befohlen hattest, Hoher Herr, aber ...« Erneut stockte Nachtanch und scharrte verlegen mit den Zehen in seinen Sandalen.
»Nun sprich schon!«, befahl sein Vorgesetzter in barschem Ton. »Erzähle dem Obersten Medjai-Hauptmann, was du dir für Freiheiten erlaubt hast!«
Sichtlich verlegen fuhr der Nubier mit seinen Ausführungen fort.
»Ich hielt sie zurück und befahl ihnen, den Mann laufen zu lassen und von nun an zu überwachen, aber so, dass er es nicht bemerkt. Ich glaube nämlich, dass er uns früher oder später zu seinem Auftraggeber oder zumindest zu weiteren Mittelsmännern führen wird.«
Nachtanch verneigte sich ehrerbietig und wartete auf die Reaktion des hohen Beamten, denn immerhin kam sein Handeln einer Befehlsverweigerung gleich, und diese zog harte Strafen nach sich.
Der Oberst saß da, hatte das Kinn in die linke Hand gestützt und sah den dunkelhäutigen Mann müde an. Er war ratlos. Was sollte er nun tun? Seitdem er von Nehi getadelt worden war, fühlte er sich völlig verunsichert und befürchtete, erneut einen schweren Fehler zu begehen.
Der Gefängnisvorsteher riss ihn aus seinen Gedanken.
»Herr, was sagst du zu dem Handeln dieses Mannes? Er hat sich deinen Anweisungen widersetzt und eigenmächtig Befehle erteilt, die nicht im Einklang mit deinen standen. Soll ich ihn bestrafen lassen und den Medjai befehlen, den Mann festzunehmen?«
Der Angesprochene schien aus seiner Nachdenklichkeit erwacht und schüttelte den Kopf.
»Nein! Er wird dem Wesir persönlich über sein Verhalten Bericht erstatten. Soll Nehi befinden, ob er richtig oder falsch gehandelt hat.«
Ungläubig starrte der Vorsteher seinen Vorgesetzten an.
»Wie du meinst, Gebieter.«
Der nubische Wachmann hingegen atmete hörbar auf, obwohl ihm bewusst war, dass eine Bestrafung durch den Wesir bei Weitem härter ausfallen konnte als durch den Gefängnisvorsteher oder den Oberst der Medjai. Nachtanch war jedoch der festen Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Was nutzte es, diesen Mann festzunehmen, wenn er womöglich schweigen würde? Er setzte auf die Ausdauer und Beharrlichkeit seiner nubischen Kameraden. Sie würden warten, und eines Tages würden ihre Bemühungen belohnt werden.
* * *
Aus einem sicheren Versteck heraus hatte der Mann das Erscheinen der Medjai beobachtet, und es war ihm klargeworden, dass das kein Zufall sein konnte. Dieses Mal war etwas schiefgelaufen!
Angestrengt hatte er überlegt, was er nun tun sollte, und hatte beschlossen, vorerst in seinem Versteck zu bleiben, bis die Ordnungshüter wieder abgezogen waren. Als diese bis zum frühen Morgen nicht wieder aufgetaucht waren, hatte er seinen Mut zusammengenommen und war zum Fluss gelaufen, um sich nach Theben auf das Ostufer übersetzen zu lassen.
Verfolgte man ihn? Der junge Mann wusste es nicht. Er hatte sich mehrfach umgedreht und aufmerksam seinen Blick über die zerklüfteten Felsen gleiten lassen, hatte aber niemanden entdecken können. Nur einmal war ihm gewesen, als hätte er im fahlen Licht des anbrechenden Tags Metall aufblitzen sehen. Er war sich aber nicht sicher gewesen. Trotzdem hatte er kein Risiko eingehen wollen und war nicht zu seinem Gebieter zurückgekehrt. Seit diesem Tag lebte er wie ein Bettler in Thebens Straßen.
Er hatte sich einen Schlafplatz in einem der leer stehenden Häuser am Stadtrand von Theben gesucht und ernährte sich von den mageren Almosen, die er sich an der prachtvollen Prozessionsstraße zwischen Opet-sut und Opet-resut erbettelte. Manchmal ging er auch zum Tempel des Amun-Re, um sich von den Speisen des Gottes ein kleines Stück zu holen, die die Priester jeden Tag an bedürftige Menschen wie ihn verteilten. Er musste vorsichtig sein, dass ihn niemand erkannte. Immerhin war er mehrfach mit seinem Gebieter in Opet-sut gewesen. Also verbrachte er seine Zeit lieber an der Prozessionsstraße zwischen den vielen Sphingen und hielt den Vorübereilenden seine bittende Hand entgegen. Sein Umhang starrte bereits vor Schmutz. Zudem hatte er sich Haare und Bart wachsen lassen und überlebte so seit gut einer Woche mehr schlecht als recht.
Er fragte sich, wie lange er dieses Leben noch ertragen musste, hoffentlich nicht bis zu seinem Tod. Er war Besseres gewohnt.
Gelangweilt schaute er den Spatzen zu, die sich um eine Brotkrume balgten, die er ihnen zugeworfen hatte. Als er
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