Das Geschenk des Osiris
den Blick zum Tempel von Opet-resut schweifen ließ, bemerkte er zwei dunkelhäutige Männer. Sie sahen wie Soldaten oder Wachleute aus, die einen wohlhabenden Mann in ihrer Mitte hatten, der unentwegt zu ihm herüberstarrte.
Bei Seth!, fluchte er in Gedanken, tat aber, als hätte er es nicht bemerkt. Dennoch wurde ihm schlagartig bewusst, dass man ihn anscheinend überwachen ließ. Also war sein Verschwinden aus dem sicheren Versteck nicht unbemerkt geblieben.
Jetzt stand es endgültig fest, dass er zu seinem Gebieter nicht wieder zurückkehren konnte, wollte er dessen Leben nicht gefährden. Und das hatte der junge Mann nicht vor. Er verdankte ihm sein Leben, und hatte ihm dafür all die Jahre treu und ergeben gedient. Er hatte nicht einen Moment lang gezögert, als sein Gebieter ihn in seinen Plan eingeweiht hatte, Gift an jene zu verkaufen, die damit sicher kein Leben retten wollten, und er hatte dadurch schon ein kleines Vermögen angehäuft, das allerdings derzeit unerreichbar für ihn war.
Und dann kam die Gier, eine der verwerflichsten Eigenschaften in den Beiden Ländern, und er hatte für eine stolze Belohnung seinen Wohltäter verraten. Inzwischen hasste er sich dafür, aber es ließ sich nicht ungeschehen machen.
Was soll ich bloß tun?, dachte er, während er unauffällig zu den drei Männern schielte, die ihn nicht aus den Augen ließen. Zu seinem Herrn zurückkehren war unmöglich. Für immer in Thebens Straßen sein Leben als Bettler fristen, kam nicht in Frage.
Ich muss mir eine ordentliche Arbeit suchen, überlegte er sich. Immerhin kann ich lesen, schreiben und auch etwas rechnen, was mich zu einem begehrenswerten Diener macht. Zudem bin ich stumm. Die meisten glauben, dass sie mit einem Stummen einen vertrauenswürdigen und verschwiegenen Hausangestellten bekommen. – Wenn sie wüssten!
Er hüllte sich fester in seinen Umhang und stand auf.
Die drei Männer standen noch immer dort, doch er ignorierte sie und verschwand im Trubel der Menschen.
Einen Tag später war aus dem verwahrlosten Bettler ein ordentlich gewaschener junger Schreiber geworden. Er hatte sich rasiert und ein sauberes Lendentuch, das er zuvor einem Händler auf dem Markt gestohlen hatte, um die Mitte gebunden. So herausstaffiert begab er sich in die besseren Viertel von Theben. Er wandte sich an die Torwächter und hielt ihnen eine kleine Tontafel unter die Nase, auf der stand, dass er Arbeit suche. Kaum einer der Wächter war des Lesens mächtig, und so gelangte er in den meisten Fällen recht schnell und einigermaßen unkompliziert an den Hausverweser. Schon nach dem vierten Anlauf wurde er als Schreiber bei einem Kaufmann angestellt, der, wie er selbst, aus Syrien stammte.
Der Gebieter war nicht zu Hause, aber der Haushofmeister nahm den jungen Mann gerne auf.
»Wie heißt du?«, fragte er ihn, und der Schreiber kritzelte seinen Namen auf eine Scherbe aus Ton.
»Ib, ein schöner Name«, meinte der Verweser und zeigte dem jungen Mann, wo er zukünftig nächtigen konnte. »Bevor ich es vergesse«, wandte er sich bereits im Gehen an Ib, »ich heiße Amunmose, und der Name des Gebieters lautet Ibiranu. Sei gehorsam und fleißig, dann wirst du es gut bei ihm haben.«
Damit war er aus der kleinen Zelle verschwunden, die fortan Ibs neues Reich werden sollte.
* * *
»Es tut mir leid, Herr!« Verlegen sah Nachtanch zu Boden. »Allem Anschein nach hat dieser Mann vor, hier in Theben sesshaft zu werden. Inzwischen glaube ich nicht mehr daran, dass wir über ihn an seine Mittelsmänner herankommen können.«
»Aber wieso?«, wollte Thotmose wissen. »Wieso versteckt er sich für gut eine Woche, lebt wie ein Bettler auf der Straße und nimmt mit einem Mal eine Stellung bei Ibiranu an?«
Resigniert zuckte Nachtanch mit den breiten Schultern. »Ich weiß es nicht, Gebieter. Es ist mir unerklärlich.«
»Könnte er bemerkt haben, dass du ihn durch deine Männer überwachen lässt?«
»Das glaube ich nicht. Meine Leute verstehen ihre Aufgabe, aber ausschließen kann ich es natürlich nicht.«
»Es muss einen Grund geben, warum er plötzlich sein Dasein als Bettler aufgibt und sich eine Anstellung sucht.«
Der Medjai dachte nach.
Es hatte ihm nicht gepasst, als der Oberste Medjai-Hauptmann von ihm verlangt hatte, dass er ihm den Mann zeigen sollte, den er beschatten ließ. Dennoch hatte sich Nachtanch dem Befehl gebeugt. Vielleicht hatte der Unbekannte sie bemerkt und war dadurch gewarnt worden, denn bereits einen
Weitere Kostenlose Bücher