Das Geschenk des Osiris
von nun an auserwählte Priester dem Ka des verstorbenen Königs huldigen, ihm Essen reichen und ihn somit am Leben erhalten.
Während der Zeremonie musste Ramses an seinen Vater denken, der sich, wie seine Vorgänger, auf dem Westufer von Theben im Königstal hatte bestatten lassen. Dennoch hatte er auch hier auf dem geheiligten Boden des altehrwürdigen Abydos ein Haus für die Ewigkeit besitzen wollen. Da er sich trotz seiner Göttlichkeit aber nur an einem Platz zur letzten Ruhe hatte betten lassen können, hatte er zu seinem fünften Thronjubiläum den Befehl erteilt, mit der Errichtung eines Heiligtums zu beginnen, das auch ein Scheingrab beinhalteten sollte. Das Gleiche wollte nun auch Ramses tun.
In der darauffolgenden Nacht begab er sich in Begleitung der Großen Königsgemahlin und den Priestern des Osiris an den Fuß der westlichen Berge, um den Grundstein für sein eigenes Heiligtum zu legen. Selbst Amunhotep ließ es sich trotz seines schwachen Gesundheitszustandes nicht nehmen, diesem feierlichen Ritual beizuwohnen. Er blieb in seinem Tragestuhl sitzen, da er noch immer nicht in der Lage war, ohne fremde Hilfe längere Zeit zu stehen. Umringt von der gesamten Priesterschaft des Gottes sah er zu, wie der Pharao und seine als Göttin Seschat gekleidete Gemahlin die heiligen Rituale zur Gründung des Tempels vornahmen.
Ramses trug nur einen einfachen weißen Königsschurz, so wie er schon vom Anbeginn aller Zeiten von den Pharaonen getragen worden war, und auf dem Kopf die Doppelkrone. Seine Gemahlin Isis war in ein weißes, eng anliegendes Leinenkleid gewandet und hatte eine Krone auf dem Kopf, von der ein Stängel in die Höhe ragte, an dessen Ende sich ein siebenstrahliger Stern befand, der von einer Mondsichel überbrückt wurde. In den Händen hielt sie eine Schreibbinse und eine Palette, das Handwerkszeug der Schreiber.
Unter den wachsamen Augen der
Herrin der Bauleute
, wie einer der Titel der Göttin Seschat lautete, begann der Herrscher mit der genauen Ausrichtung des Bauwerks, das anhand der Sterne und mittels Flucht- und Visierstäben vorgenommen wurde. Dem Pharao zur Seite standen als Götter gewandete Priester. Unter ihnen war Netnebu, der den Gott Thot verkörperte, eine Rolle, die eigentlich Amunhotep zugekommen wäre. Er stand Ramses hilfreich zur Seite, denn Thot hatte einst den Priestern die Vorschriften zum Bau eines Tempels gegeben. Somit kam diesem Gott die Aufgabe zu, zusammen mit dem König die genaue Ausrichtung des Heiligtums vorzunehmen.
Im Anschluss wurde die Korrektheit der Messergebnisse durch die Göttin Seschat in Gestalt der Königin Isis überprüft, und gemeinsam mit dem Pharao zog sie die Messstricke zur Festlegung des Tempelgrundrisses.
Nun konnte Seschat die Vorhersage über die Dauerhaftigkeit des Heiligtums treffen: »Dein Bauwerk, o großer Pharao, wird so sicher auf seinen Fundamenten stehen wie der Himmel auf den seinen. Dein Werk wird beschützt werden wie die Erde von den Göttern. Es wird der Zerstörung widerstehen bis in alle Ewigkeit.«
Das war das Signal, dass mit dem Ausheben der Fundamente und dem Errichten der Mauern begonnen werden konnte. Zuvor wurde durch Ramses eigenhändig der Grundstein für sein zukünftiges Heiligtum gelegt. Er hob an allen vier Ecken des Tempelbezirks sowie an der Längsachse je eine Gründungsgrube aus, in die Modelle von Werkzeugen platziert wurden sowie Amulette und Statuetten von Amun-Re, Horus, Osiris, Ptah, Thot, Seth und Isis, jenen Göttern, denen dieser Tempel neben dem, nach seinem Tod vergöttlichten Ramses geweiht werden sollte.
Die gesamte Zeremonie wurde durch das Rasseln der Sistren untermalt, vom Rezitieren der heiligen Texte, dem Verbrennen von Weihrauch sowie dem Reinigen des Bodens durch Besprengen mit dem Wasser aus dem Heiligen Becken.
Nach Beendigung der Handlungen kehrten alle zufrieden in den Tempelbezirk zurück. Schon am nächsten Morgen würde mit der Errichtung des Heiligtums begonnen werden.
* * *
Am folgenden Tag zog sich Ramses zusammen mit dem Vorsteher der Priesterschaft in dessen Privaträume zurück, um mit ihm ungestört reden zu können. Amunhotep hatte sich seine Schreibtafel genommen und beantwortete die Fragen des Herrschers schriftlich, weil Ramses bei dieser Unterredung selbst die von Osiris gesandte Dienerin nicht dabeihaben wollte.
»Bevor ich zu dem komme, weswegen ich mit dir allein reden wollte, habe ich noch eine Frage«, hob Ramses an und sah Amunhotep fest in
Weitere Kostenlose Bücher