Das Geschenk: Roman
gelesen, die in Eisenbahnen spielten, und hier waren sämtliche Elemente für eine dramatische Geschichte vorhanden: die Romantik gediegenen, gemächlichen Reisens in einem geschlossenen Raum sowie eine ganze Reihe potenzieller Übeltäter aus allen Bereichen des Lebens. Am spannendsten fand Tom jene Eisenbahn-Thriller, in denen die Fahrgäste in der Dunkelheit lagen, kaum zu atmen wagten und die Decken bis an die Nase hochgezogen hatten, weil sie spürten, dass jeden Moment etwas Schreckliches passieren würde. Und tatsächlich – nicht mehr lange, und die Spannung erreichte ihren Höhepunkt: Es gab einen Lichtblitz, einen Schrei und einen dumpfen Laut, wenn ein Körper zu Boden polterte. In den frühen Morgenstunden wurde dann die Leiche, die Augen weit aufgerissen und die Haut kreideweiß, von einer unglaublich beschränkten jungen Reisenden entdeckt, die sich ungefähr zehn Minuten lang die Seele aus dem Leib schrie, während ein Paar düsterer Augen sie aus einer finsteren Ecke anstarrte. Tom konnte nicht begreifen, dass es Leute gab, denen bei einem solchen Szenarium kein wohliger Schauer des Gruselns über den Rücken lief.
Regina hatte makellose dunkelbraune Haut und schien viel zu jung zu sein, um in einem Zug oder sonstwo zu arbeiten. Für Tom sah sie wie eine High-School-Anfängerin aus, die sich für den ersten Schulball und ihren ersten ernsthaften Kuss herausgeputzt hatte. Sie war groß und schlank und sehr sympathisch, und die Arbeit machte ihr offensichtlich großen Spaß. Sie trug eine rot-weiße Mütze, wie sie häufig von Weihnachtsmännern in Einkaufszentren getragen werden, und war gerade dem nervösen jungen Paar behilflich, das Tom Händchen haltend im Wartesaal hatte sitzen sehen. Der Geistliche hatte bereits die Einstiegsformalitäten hinter sich und wuchtete seine schwere Reisetasche in den Zug. Nachdem Regina das Paar abgefertigt hatte, trat Tom vor und zeigte ihr seine Fahrkarte.
Sie suchte seinen Namen auf ihrer Liste und hakte ihn ab.
»In Ordnung, Mr Langdon, Sie wohnen in der oberen Etage in Abteil D. Dort rechts die Treppe hinauf und dann nach links den Gang entlang.«
Tom bedankte sich bei ihr und setzte vorsichtig einen Fuß aufs Trittbrett des erhabenen Capitol Limited. Seine Erfahrungen mit Schlafwagen beschränkten sich darauf, dass er mehrere Male den Film Der unsichtbare Dritte von Alfred Hitchcock und mit dem tadellos eleganten Cary Grant, einer sexy Eva Marie Saint und einem sehr finsteren James Mason in den Hauptrollen gesehen hatte. Die meisten Fans dieses Films erinnern sich am besten an die berühmte Szene mit dem Flugzeug, das den armen Cary mit Schädlingsbekämpfungsmittel besprüht. In der Szene steht Cary in seinem perfekt maßgeschneiderten eleganten grauen Anzug allein inmitten einer unendlich weiten, einsamen Farmlandschaft und wartet auf den mysteriösen George Kaplan, mit dem er dort verabredet ist und den es natürlich gar nicht gibt. Ein paar verschlagene Zeitgenossen bei der CIA hatten Kaplans Identität für ihre eigenen üblen Machenschaften erfunden. Diese Typen hatten immer eine Lüge auf den Lippen, um die Welt für die Demokratie sicherer zu machen. Doch um der Gerechtigkeit die Ehre zu geben: Es geschah stets mit bester Absicht und einzig und allein auf Kosten der Steuerzahler.
Die Filmszene hingegen, an die Tom sich am besten erinnerte, war die Kussszene in Eva Marie Saints geräumigem Schlafwagenabteil. Cary und Eva gingen dabei richtig heiß und heftig zur Sache, sogar nach heutigen Maßstäben. Als Tom die Szene als junger Mann gesehen hatte, waren seine Hormone in Aufruhr geraten, und ihm waren die wildesten Gedanken über alle möglichen Frauen gekommen – jedenfalls über Frauen, die aussahen wie Eva Marie Saint.
Eingedenk dieses Films wusste Tom, dass sein Schlafwagenabteil elegant eingerichtet und geräumig sein musste, Platz für zwei Betten hatte und über einen Arbeitsbereich, einen kleinen Vorraum zum Empfang von Besuchern, ein vollständig ausgestattetes Badezimmer mit Whirlpool und möglicherweise über einen Patio oder einen Balkon verfügte. Von Quartieren für Bedienstete ganz zu schweigen. Schließlich musste es einen Grund dafür geben, weshalb Cary und Eva am Ende des Films ihre Flitterwochen in eben diesem Schlafwagenabteil verbrachten. Es war größer als jede Wohnung, in der Tom je gelebt hatte.
Er stieg die Treppe hinauf, die Regina ihm gezeigt hatte. Mit dem Gepäck bereitete der Aufstieg einige Schwierigkeiten, da
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