Das geschenkte Gesicht
sie bis Hanau. Dahinter hörten die Schienen auf. Sie waren von Bomben zerfetzt und nur eingleisig wieder aufmontiert worden. Zu Fuß ging sie weiter, über die staubige Landstraße auf Waldwegen. Amerikanische Lastwagen donnerten an ihr vorbei, riesige Ungetüme, die sie mit Lehm und Staub bedeckten und deren Luftdruck sie in den Straßengraben preßte.
Sie biß die Zähne zusammen, hakte die Daumen in die Träger des Rucksacks, den sie auf der Schulter trug, und stemmte sich gegen die Müdigkeit, die von den Füßen her über die Beine und den Leib bis an ihr Herz kroch.
Wie mit Mehl bestäubt, kam sie am Abend des ersten Tages in ein Dorf. Die unversehrten Häuser sahen sauber aus, in den Gärten blühten Blumen. Tulpen und Narzissen, weißer und roter Flieder mit dicken Dolden, Rotdorn und Lupinen.
Wie schön das ist, dachte sie trotz ihrer bleiernen Müdigkeit. Tulpen und weißer Flieder – das war mein Hochzeitsstrauß. Ich habe ihn aufgehoben und die Blumen getrocknet. Und dann verbrannten sie, in einer Oktobernacht, in der es viertausend Tote gab. Und jetzt blüht es wieder. Und wie stark der Flieder riecht. In unseren Trümmern blüht es auch. Butterblumen, Brennesseln, Disteln und wilde Möhre. Keiner weiß, wo es herkam, plötzlich waren die grünen Flecke zwischen den Ruinen.
Hinter dem Fenster des Hauses, vor dessen Garten sie stand, sah sie zwei Köpfe. Eng zusammengesteckt blickten sie durch die Gardine und beobachteten sie.
Ob sie ein Bett haben, dachte Ursula. Oder nur ein Sofa? Und ein wenig Kaffee?
Sie ging zur Tür und drückte auf die Klingel. Sie hörte den Klang, aber im Hause blieb alles still. Niemand kam, keiner öffnete. Aber sie sind doch da, dachte Ursula, ihre Köpfe waren doch hinter der Gardine. Sie schellte wieder und wartete.
Sie wollen nicht, dachte Ursula und ging die Straße weiter durch das Dorf. Sie machen nicht auf, sie haben Angst, ich würde betteln – um ein paar Kartoffeln, um eine Möhre, um eine Steckrübe. Natürlich müssen sie das denken, denn ich habe ja einen Rucksack auf der Schulter.
Sie läutete beim nächsten Haus, beim übernächsten, beim dritten und vierten. Niemand öffnete ihr, als seien die Häuser ausgestorben, so still war es in ihnen. Nur die Gardinen bewegten sich, und Köpfe zuckten zurück, wenn sie genauer hinsah.
»Ich habe zu essen bei mir!« schrie Ursula beim nächsten Haus. »Nur ein Dach überm Kopf will ich! Schlafen! Nichts weiter. Ich will ja nicht euer Essen!«
Sie schrie gegen taube Wände, säuberlich gefugte Ziegel und weißgestrichene Türen, gegen die sich versteckenden Köpfe und die kalten, abweisenden Augen.
»Ich will nur schlafen! Ich will doch nicht betteln! Ich habe zu essen bei mir!«
Schließlich übernachtete sie in einer Scheune, auf einem Ballen fauligen Strohs. Sie war zu müde, um sich zu ekeln, nicht einmal den Geruch der Fäulnis nahm ihre Nase auf. Sie sank einfach um und warf sich auf die Seite, den Rucksack noch auf dem Rücken.
Am Morgen des zweiten Tages nahm sie ein Milchauto mit. Es brachte einige verbeulte Zinkkannen zu einer Sammelstelle, wo die Milch an Kinder und Krankenhäuser verteilt wurde.
»Nach Bernegg wollen Sie?« fragte der Fahrer. »Das ist noch ein gutes Stück. Den Main hinauf bis Würzburg und dann durch die Hügel.«
»Wenn noch ein paar so freundlich sind wie Sie«, sagte Ursula, »kann ich morgen da sein.«
»Ich geb' Ihnen einen guten Rat.« Der Milchfahrer zeigte auf eine amerikanische Militärkolonne, die sie überholte. »Die da, die müssen Sie anhalten! Wenn sie einzeln fahren. Und wenn ein Neger am Steuer sitzt – na, der nimmt Sie bestimmt mit. So blond wie Sie sind! Nur müssen Sie aufpassen, daß die nicht betrunken sind, dann wird's gefährlich. Ohne Schnaps sind die Neger wie Kinder. Die schenken Ihnen sogar Schokolade und Kekse!«
»Danke«, sagte Ursula und schüttelte den Kopf. »Ich werde zu Fuß gehen, das ist sicherer.«
Der Milchfahrer hob die Schultern. Über tiefe Schlaglöcher klapperte der Wagen durch den heißen Tag. Hinten klirrten die Milchkannen und quietschte eine ungeschmierte Achse.
»Wer so blond ist wie Sie, kann jetzt reich werden«, sagte der Fahrer. »Ist ja doch alles im Eimer, Mädchen. Und wenn man dadurch weiterleben kann!«
Von Aschaffenburg fuhr wieder ein Zug nach Würzburg. Es war sogar ein Personenzug, mit uralten Dritter-Klasse-Wagen und zerbrochenen Scheiben. An deren Stelle hatte man Pappe oder Drahtglas in die Rahmen
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