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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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genagelt. Ein Platz war in dem Zug nicht mehr zu haben, auf den Trittbrettern hingen die Menschen wie Trauben und waren bereit, jeden wegzutreten, der noch aufsteigen wollte. Ein Bahnbeamter rannte den Zug entlang und brüllte: »'runter von den Trittbrettern und Puffern! 'runter! Es ist verboten!«
    Niemand hörte auf ihn. Sie ließen ihn laufen und schreien. Es war gewiß, daß man ihn zerreißen würde, wenn er den Versuch unternehmen sollte, mit Gewalt die Trittbretter zu räumen. Eine geballte Masse Roheit und Blutdurst hing an dem Zug. Mit höchster Grausamkeit würde man den Platz verteidigen, den man erkämpft hatte – einen Platz, um nach Würzburg zu kommen.
    Ursula stand vor dem Zug und starrte in die finsteren Gesichter. Kein Mitleid war darin, nur das kalte Ich, das brutale Eigenleben. Sie machte einen zagen Versuch, auf ein Trittbrett zu steigen und sich am Fensterrahmen festzuklammern. Zwei Fäuste stießen sie vor die Brust und auf den Bahnsteig zurück. »Hau doch ab, du Miststück!« schrie jemand. »Lach dir lieber 'n blöden Ami an!«
    »Der Zug fährt gleich ab!« rief der hilflose Bahnbeamte. »Die Trittbretter und Puffer räumen! Ich lasse den Zug nicht eher abfahren!«
    Jeder wußte, daß es eine leere Drohung war. Man lachte, man grölte. Jemand schrie: »Wenn du nicht abpfeifst, leg' ich dich auf die Schienen und pfeif für dich!« Er erntete lauten Beifall. Der Bahnbeamte schwieg und rannte bis zur Lok, begleitet vom Gejohle der Menge.
    Der Zug fährt gleich, dachte Ursula. Ein Zug nach Würzburg. Ich muß mit – so oder so! Wenn ich bis Würzburg laufen muß, brauche ich ja eine Woche.
    Sie kletterte auf einen Puffer, und als man sie dort hinunterwerfen wollte, schrie sie grell: »Laßt mich! Ich will aufs Dach. Ich muß nach Würzburg. Ich muß zu meinem Mann!«
    »So 'n Druck, Mädchen?« rief jemand. Und plötzlich lachten alle und hoben Ursula auf das Wagendach. Dort saßen schon einige Männer und hielten sich an den Entlüftungshauben fest.
    »Vom Dach 'runter!« brüllte der Bahnbeamte und drohte mit der grünroten Kelle.
    »Leck mich am Arsch!« schrie einer der Männer zurück.
    Dann fuhr der Zug endlich an, langsam, träge, überladen und vorsichtig, um die Menschen nicht von den Trittbrettern, Puffern und Dächern zu wehen.
    Fünf Stunden brauchte er von Aschaffenburg bis Würzburg, fünf Stunden lag Ursula in der prallen Sonne, an eine Entlüftung festgeklammert. Der schwarze Qualm der Lok strich über sie und rußte ihr Gesicht und das Kleid ein, legte sich auf den Gaumen und nahm ihr fast den Atem. Aber sie kam in Würzburg an, und es war ihr, als spüre sie schon die Nähe Erichs, so wie man das Meer schon von weitem riecht, ohne es zu sehen.
    Die zweite Nacht schlief sie in einem der kleinen Weingerätehäuschen in einem Weinberg bei Sommershausen. Sie wusch sich an einer Pumpe und stieg dann zur Straße hinab, über die in langen Kolonnen die grünen Transporter der Amerikaner brummten.
    Heute werde ich in Bernegg sein, dachte sie glücklich. Auch wenn ich zu Fuß gehen muß – ich werde es erreichen. Und ich werde Erich sehen und ihm alles sagen. Alles. Auch das mit Karlheinz Petsch. Und er wird mich verstehen, denn ich will ihn ja lieben, so wie er ist. Ganz gleich, wie sein Gesicht auch jetzt aussieht.
    Und sie redete sich ein, daß es nicht schwer sein würde. Immer wieder sagte sie es sich. Und trotzdem wuchs ihre Angst, je näher sie Bernegg kam.
    Das letzte Stück fuhr sie auf dem Leiterwagen eines Bauern aus Bernegg. »Zum Lazarett wollen Sie?« fragte er und musterte verstohlen die kleine blonde Frau. »Waren Sie schon mal dort?«
    »Ja. Einmal.«
    »Dann ist's ja nichts Neues. Und nun wollen Sie wieder da 'rauf?«
    »Ja.«
    »Einen besuchen?«
    »Ja.«
    »Den Bräutigam?«
    »Meinen Mann.«
    »Das wird nicht gehen.«
    Ursula fuhr zusammen. »Warum nicht?« stammelte sie.
    »Da kommt doch keiner 'rein. Das sind doch Kriegsgefangene.«
    »Aber sie haben doch kein Gesicht mehr!«
    »Trotzdem sind's Gefangene.«
    Ursula umklammerte das Gestänge des Wagens. Ihre Stimme war ganz klein und kläglich. »An wen muß ich mich denn wenden?«
    »So 'n Major ist da. Wohnt in der Schule. Ein sturer Bursche.«
    Ursula nickte stumm. Und wieder kam die Angst, und sie wuchs und wuchs mit jedem Räderknarren und wurde riesengroß wie ein Felsblock, der auf ihr Herz fiel.
    Dann sah sie Schloß Bernegg auf dem Hügel liegen. Es glänzte in der Abendsonne wie eine

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