Das geschenkte Gesicht
Köln.«
»In Köln? Ohne etwas zu hinterlassen? Ist das Kind denn schon da?«
»Das Kind?« Schwabe starrte Dr. Mainetti wie einen explodierenden Vulkan an. »Das – Kind –?«
Er warf die Arme hoch, und dann schrie er gellend auf und fiel vornüber auf das Gesicht, wie ein Baum, den der letzte Axthieb umwirft.
Es war mit ihm nicht mehr zu reden. Dr. Mainetti erreichte nichts, Professor Rusch gab resignierend auf, und auch der Famulus Baumann sagte nach einer Stunde: »Mach, was du willst, du sturer Hund. Aber den Brief an deine Frau schreibe ich nicht. Sieh zu, wer dir diesen Blödsinn schreibt!«
Erich Schwabe saß, gebadet und wie in alten Zeiten mit leukoplastverklebtem Gesicht, in Zimmer 14 und hatte die Fäuste auf den Tisch gelegt. Seit drei Stunden hatte man versucht, ihn von seinem Plan abzubringen.
»Es ist völlig sinnlos, was Sie alles sagen«, hatte er Lisa angefaucht. »Ich bleibe hier. Ich gehe nie mehr nach Köln zurück. Ich will ihnen nicht einmal mehr selber schreiben. Ihr habt den Walter Hertz wieder aufgenommen – bitte, nun nehmt auch mich auf. Ich kann mich nützlich machen. Ich kann alles, schreinern, mauern, Leitungen legen, alle Reparaturen. Stellt mich als Hausmeister ein oder als Lokuspfleger – mir ist alles egal. Aber ich bleibe hier. Und wenn ihr mich 'rausschmeißt«, er stockte und sah Dr. Mainetti aus entschlossenen Augen an, »bitte, dann ist da noch der Teich. Und Bäume gibt's hier auch genug. Ich will nichts mehr von der Welt sehen – nichts mehr, nichts«, brüllte er.
Der einzige, der ihn verstand, war Walter Hertz. Der hatte Schwabe seine Geschichte mit der Familie Wolfach erzählt. »Wir gehören eben einfach nicht mehr zu denen da draußen, Erich«, sagte er. »Es war eben ein großer Fehler, daß wir weiterleben. Als Tote wären wir jetzt Helden – aber als Menschen ohne Gesicht sind wir ein Ärgernis. Alle wollen so schnell wie möglich vergessen, und da kommen wir mit unseren Fratzen und sagen: ›Seht, so war's. Das ist der Krieg.‹«
Walter Hertz strich sich über sein hängendes Auge. »Der Deutsche will nicht an seine unliebsame Vergangenheit erinnert werden. Und das wird schlimmer werden von Jahr zu Jahr. Du wirst es sehen: Man wird uns persönlich übelnehmen, daß wir durch unser Weiterleben die anderen am Vergessen hindern.« Er ballte die Fäuste und hieb mit ihnen auf den Tisch wie auf eine Riesentrommel. »Aber sie sollen nicht vergessen. Sie sollen uns immer ansehen«, schrie er. »Die Schieber, die dick und fett werden, die Generäle, die ihre Memoiren schreiben über die ›großen Zeiten‹, die Politiker, die alles am schnellsten vergessen und von neuen Silberstreifen am Horizont träumen. Vor ihnen müssen wir stehen und sie angrinsen aus unseren zerstörten Gesichtern, bis sie im Schlaf aufschreien vor dem Anblick, der sie verfolgt bis in ihre tiefste Seelenfalte. Erich, das wäre ein Ziel, um weiterzuleben: das lebendige Gewissen einer geopferten Generation sein. Eine Mahnung für die Jungen, denen man bald wieder Kanonen und Panzer und Gewehre zum Spielen geben wird und zu denen man sagen wird: Es ist eine Ehre, eine Uniform zu tragen. Dann müssen wir dastehen, Erich, und unsere Gesichter zeigen. Und weißt du, was dann geschehen wird? Man wird uns wegschaffen, man wird uns verhaften – wegen Gefährdung des Staats.«
»Das ist alles ganz gut und schön«, sagte Schwabe und ging im Zimmer hin und her. »Aber mich geht es einen Dreck an. Ich will nichts mehr wissen, hörst du? Nichts mehr von Politik, nichts von denen da draußen außerhalb der Schloßmauer. Ich will nur leben. Ganz ruhig, ganz allein. Ich will am See sitzen und angeln, ich will im Park Spazierengehen, und ich will malen. Jawohl, malen will ich. Ich habe einmal damit angefangen, und es war ganz gut. Bäume will ich malen, und Blumen und Schmetterlinge und Wolken und die Abendsonne. Alles will ich malen – nur keine Menschen. Und hier im Park sollen sie mich begraben, dort wo die anderen Gesichtsverletzten liegen. Ich will nie mehr zurück zu den Gesunden. Nie mehr. Auch als Toter nicht.«
»So haßt du sie?« fragte Walter Hertz dumpf.
Schwabe nickte.
»Ja, so hasse ich sie. Eigentlich gibt es kein Wort für das, was ich empfinde.«
Walter Hertz war es denn auch, der den Brief an Ursula schrieb, den Schwabe selbst nicht schreiben wollte. Hertz schrieb ihn nach Schwabes Diktat.
Es war eine kurze Abrechnung, ein endgültiger Abschied, ein totaler Verzicht auf
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