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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sagen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehe? dachte er. Was kann geschehen, wenn dieser Brief nur eine Lüge ist? Wenn er wahr wäre – bestimmt hätte Mutter etwas zu mir gesagt. Mutter hätte es mir nie verschwiegen, nie. Sie hätte Ursula hinausgeworfen und diesen Karlheinz Petsch dazu.
    Ein neuer, ihn voll und ganz ausfüllender Zweifel hemmte in ihm alle Aktionen. Mein Gott, wenn es nicht wahr ist, dachte er.
    Vom anderen Ende der Straße rappelte ein Auto heran. Schwabe erkannte es: der P4 mit der seitlichen Ölfarbenaufschrift ›Schwabe & Petsch. Wiederaufbau GmbH‹. Die letztere, dumme Bezeichnung stammte von Petsch und war auf Schwabes Widerstand gestoßen. Aber es zeigte sich, daß Petsch ein fabelhafter Psychologe war: Das Wort ›Wiederaufbau GmbH‹ war wie ein Magnet. Es zog Butter, Eier, Kaffee, Tabak, Schinken und Speck an, wo es auch auftauchte.
    »Man muß die Mentalität der Menschen kennen, dann klappt's«, war Petschs zweites Wort, und er hatte bisher immer recht behalten.
    Schwabe zertrat seine Zigarettenkippe und drückte sich gegen die zerborstene Mauer. Der Wagen hielt vor dem Schwabekeller. Petsch sprang aus dem Auto, rannte um den Kühler herum und riß wie ein Chauffeur die andere Tür auf. Langsam stieg Ursula heraus. Sie war durch ihren schweren Leib unbeweglich und unsicher geworden. Petsch faßte sie unter – fast zu liebevoll, dachte Schwabe – und stellte sie auf die glatte Straße.
    »Na, das hätten wir«, hörte Schwabe deutlich Petsch sagen. »Zufrieden, Mädchen?«
    »Ja, Karlheinz.«
    »Und was kriegt der gute Heinzi dafür?«
    Ursula lachte. Sie beugte sich vor und gab Petsch einen Kuß auf die Augen.
    »Wie zahm«, sagte Petsch. »Früher war's mehr.«
    Erich Schwabe preßte die Hände flach gegen die rissige Mauer. Zitternd starrte er hinüber zu Ursula und Petsch, der wieder um den Wagen herumging und einstieg.
    »Ich bring' die Karre weg und komm noch auf 'nen Sprung zu euch«, rief er. »Und dem Erich kannste schreiben, daß du hierbleibst.«
    Schwabe verhielt sich still. Er sah, wie Ursula in den Keller hinabstieg und drückte sich eng an die Wand, als Karlheinz Petsch mit dem P4 an ihm vorbeifuhr. Trotz des Motorenlärms hörte Schwabe, wie Petsch lustig und laut pfiff.
    Dann war wieder die einsame, kalte Nacht um ihn, und auch in seinem Inneren war es Nacht und kalt und von einer grenzenlosen Öde.
    Es war nicht mehr nötig, hinabzugehen in den Keller und zu fragen. Es war sinnlos geworden, Lügen zu hören und sich zu bemühen, sie zu glauben, um sich selbst zu betäuben vor der zerreißenden Wahrheit.
    Was sollte jetzt noch gefragt werden? Was hatten Beteuerungen, gestammelte Worte, Tränen, Schwüre, Erklärungen noch für einen Sinn?
    Erich Schwabe löste sich aus der Dunkelheit der Trümmer und tappte durch das Ruinenfeld, quer durch die zerstörten Häuserreihen, zurück in die Innenstadt. Erst drei Häuserblocks weiter, wo er eine Begegnung mit Petsch nicht mehr zu befürchten hatte, trat er wieder auf die Straße und stapfte durch den eisigen Wind wieder dem Rhein zu.
    Auf der Pontonbrücke kam ihm ein anderer junger Soldat entgegen, der Zigarettenspender war abgelöst worden und schlief jetzt unter einer warmen flauschigen Decke in seiner Wachbaracke. Vielleicht träumte er von dem Mann ohne Gesicht, dem er eine Zigarette geschenkt hatte, aus purem Entsetzen, weil er noch nie ein so zerstörtes Gesicht gesehen hatte.
    Im Deutzer Bahnhof klemmte sich Schwabe in eine Ecke des notdürftig mit Sperrholz und Pappe abgedichteten Wartesaals. Die ätzende Luft von Schweiß, trocknenden, nassen Kleidern, Ausdünstungen von ungewaschenen Körpern trieb die Müdigkeit in seine Augen. Wie die hundert Menschen um ihn rollte sich auch Schwabe zusammen und schlief.
    Nun bin ich ganz allein, war das letzte, was er deutlich dachte. Kein Gesicht, keine Heimat, keine Frau, keine Mutter, keine Zukunft. Wie eine Ratte liegt man hier, wie sie verfolgt von Abscheu und Ekel.
    Ein Abfall des Krieges.
    Von den gesunden Menschen weggestoßen.
    Was ist das: Vaterland?
    Am späten Nachmittag tappte Schwabe wieder durch die Eingangshalle von Schloß Bernegg, schmutzig, hungrig, müde, mit trüben Augen. Er stierte Dr. Mainetti, die auf der Treppe stand, wie eine Fremde an, und es war offensichtlich, daß er sie gar nicht bemerkte.
    »Schwabe«, sagte Lisa laut. »Mensch, wo waren Sie denn? Wie sehen Sie denn aus?«
    »Wie eine Ratte«, sagte Schwabe dumpf.
    »Wo waren Sie?«
    »In

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