Das geschenkte Gesicht
Wennste dir die Augen ausheulst – die können wir dir nicht ersetzen.«
»Du Rindvieh, du erbärmliches«, weinte Schwabe. Er umarmte Baumann, küßte ihn auf die Backe und drückte ihn an sich. »Du hast es nicht geglaubt, nicht wahr. Du hast es nicht geglaubt?«
»Ich kenne doch unseren Professor, Mensch. Natürlich war das klar. Aber du hast nie daran geglaubt, du Pflaume.«
Schwabe nickte. »Ich habe es nie für möglich gehalten. Und nun so etwas, so etwas.«
Er rannte aus dem OP wie ein Junge, der einem davonschwebenden Luftballon nachjagt.
Professor Rusch sah vom Vorbereitungsraum aus herein. Er hatte durch die offene Tür alles mit angehört, während er sich für die nächste Operation wusch.
»Jetzt sollte man seine Frau kommen lassen«, sagte er.
Lisa schüttelte den Kopf. »Ich weiß etwas Besseres, Walter. Ich habe nur auf diesen Augenblick gewartet.«
Das deutsche Volk stand einen Augenblick fassungslos vor den über Nacht prall gefüllten Geschäften. Es hatte pro Kopf 40 neue Deutsche Mark in der Hand und eine unbezwingbare Kauflust im Herzen. Nach der Auszahlung des nächsten Gehaltes und Lohnes in der harten Währung begann dann auch ein Sturm auf die Geschäfte, der in die Geschichte des Wiederaufbaus als ›Freßwelle‹ einging.
Aber mit einer äußeren Gesundung allein war es nicht getan Ein Hausputz erfaßt nicht nur den Fußboden, wo man ihn sieht, sondern er fegt auch die Ecken leer. Er kehrt die Spinnweben weg und die Überreste vergangener Tage.
Professor Dr. Walter Rusch erhielt ein Schreiben. Es war dienstlich, knapp und enthielt eine Vorladung zur Entnazifizierung. Der Termin für eine öffentliche Verhandlung in Würzburg war bereits angesetzt.
»Entnazifizierung?« sagte Rusch und legte die Vorladung auf seinen Tisch zu den Röntgenplatten. »Das ist doch wohl wieder ein Irrtum wie in Darmstadt. Sie müssen doch die Akten haben.«
Er schrieb nach Würzburg, schilderte seinen Fall und erhielt postwendend eine Antwort.
»Die Entscheidungen des amerikanischen Gerichtes im Internierungslager Darmstadt sind für uns nicht bindend. Sie haben sich zum angegebenen Termin …«
»Und es erhebt sich wieder das stolze deutsche Haupt …«, sagte Lisa Rusch, geborene Mainetti, als sie den Brief abheftete. »Wir haben wieder Brot und Butter, Beamte und Bürokratie. Es wird nicht mehr lange dauern, und die Kanonen kommen auch wieder.«
»Um Himmels willen, Lisa. Wenn das möglich wäre. Ich würde sofort einen Ruf nach Amerika annehmen.«
»Dann wäre es gut, schon jetzt die Koffer zu packen.« Lisa zeigte auf die erste Seite einer Zeitung. »Man riecht zwischen den Zeilen schon den Schwefel.«
Eine Woche später fuhren sie nach Würzburg zur Verhandlung vor der Entnazifizierungskammer. Professor Rusch hatte einen schwarzen Anzug angezogen, als gehe er zu einem Fest oder zu einer Beerdigung. Baumann fuhr den neuen Wagen, den sich Rusch gekauft hatte. Auf dem vierten Sitz saß Erich Schwabe. Lisa hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen, dazu eine Fülle von Fotos und Röntgenbildern.
»Wir wollen ihnen zeigen, was du getan hast, während die anderen marschiert sind und gesungen haben ›Es zittern die morschen Knochen‹. Diese Anklage hat ein Idiot erhoben.«
Die Verhandlung fand in einem mittelgroßen Zimmer statt, das kahl war bis auf einen Tisch und einige Stühle. Hinter dem Tisch saßen wichtig dreinblickende Herren, die Professor Dr. Rusch wie ein Wundertier bestaunten und mit einer Handbewegung – gleich drei machten sie mit deutlich sichtbarer Jovialität – aufforderten, Platz auf einem Stuhl am Tisch zu nehmen.
»Zu gütig«, sagte Rusch und blieb stehen, stützte sich auf die Lehne des angebotenen Stuhles und sah auf seine Richter hinab. Das machte einen fatalen Eindruck. Nichts beleidigt einen zu Höherem berufenen Deutschen mehr als der Stolz des Gegners.
Die einstündige Verhandlung verlief nicht sehr zufriedenstellend. Man verlas die Anklage, und Professor Rusch erwiderte darauf: »Alles Blödsinn.«
»Erlauben Sie mal«, rief der Vorsitzende. »Wir haben hier Dokumente.«
»Sie haben Aussagen.« Professor Rusch nickte zu dem Tisch hin, auf dem ein dickes Aktenstück lag, mit einem Etikett, auf dem sein Name stand. »Sie lesen mir da vor: Bei einer Aktion ›Heldenklau‹ soll ich selbst eine Reihe Gesichtsverletzter zur Entlassung vorgeschlagen haben. Ja, auf meinen Antrag hin soll diese Aktion überhaupt erst angelaufen sein, obwohl die Speziallazarette
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