Das geschenkte Gesicht
Berliner. Er hatte sich als Conférencier einem Kabarett angeschlossen. »Kinder«, schrieb er in einem langen Brief, »das ist 'ne Wolke. Wenn ich mit meiner schiefen Fresse Witze mache – das Publikum bepinkelt sich vor Lachen.«
Lisa zeigte den Brief ihrem Mann, und Professor Rusch hob resignierend die Schultern. »Auch das muß es geben«, sagte er. »Ein zerstörtes Gesicht als Maske eines Clowns. Und die Leute lachen sogar darüber. Das ist das Schrecklichste an der Sache. Sind wir schon wieder so weit, Lisa, daß wir den Krieg als lustige Erinnerung empfinden?«
In Bernegg hatten Frau Schwabe und Ursula eine größere Wohnung bekommen. Die Nähkünste Ursulas öffneten ihnen alle Wege und Umwege, und gegen Herausgabe von zwei großen Steintöpfen eingeschmolzenen Fetts, fünf Einmachgläsern mit Rindfleisch und 5.000 Mark konnte die Familie Schwabe in eine schöne Vier-Zimmer-Wohnung ziehen, am Stadtrand von Bernegg, mit einem schönen, weiten Garten und einem Blick auf das Schloß. Das Haus gehörte einer Witwe, deren Bruder beim Wohnungsamt es bisher erreicht hatte, eine Beschlagnahme zu verhindern mit der Begründung, zwei Söhne seien vermißt und könnten jederzeit wiederkommen. Das Angebot Frau Hedwig Schwabes aber erschütterte alle Schutzwälle, um so mehr, als bei dem regen Publikumsverkehr im Schneideratelier auch wichtige Verbindungen geknüpft werden konnten. Wer in diesen Monaten ohne Beziehungen weiterleben konnte, mußte ein Zauber- oder Hungerkünstler sein.
Dreimal hatte Erich Schwabe noch versucht, eine Scheidung zu erreichen. Ursula ließ wissen, daß sie nicht daran dächte. Da resignierte Schwabe und sagte zu Lisa:
»Dann geht es eben so weiter. Es ist ja doch nur eine Formsache.«
Seine Tochter Erika hatte Schwabe nicht wiedergesehen. Sein erster Besuch in Würzburg war Begrüßung und Abschied zugleich gewesen. Er sprach auch niemals mit einem anderen über sein Kind, auch nicht mit Rusch oder Lisa. Nur abends saß er manchmal still und blaß unter der Lampe und betrachtete Bilder kleiner, lockiger Mädchen, die in den Zeitungen und Illustrierten abgebildet waren.
Von Monat zu Monat veränderte sich auch das Gesicht Erich Schwabes. Die dritte Nase saß endlich richtig und wuchs ohne Komplikationen ein. Die linke Ohrmuschel wurde geformt. Rusch und Lisa nahmen dazu Rippenknorpel Schwabes und ein neues Plastikmaterial, das man in Amerika bei Gesichtsplastiken verwendete und das Fritz Adam von der Universität Heidelberg zu Versuchen herüberschicken ließ. Professor Rusch machte den Versuch mit Schwabes rechtem Ohr und transplantierte das körperfreundliche Weichplastikmaterial. Es heilte ohne Zwischenfälle ein. Am Tage der Währungsreform 1948 operierte Rusch die letzte Korrektur der Nase. Das Gesicht Schwabes hatte jetzt das Fratzenhafte verloren, es war wieder ansehbar, es war ein menschliches Gesicht, ein bißchen fremd, wenn man die Fotos des früheren Erich Schwabe mit dem neuen Antlitz verglich, aber immerhin doch ähnlich, erkennbar und vor allem nicht abstoßend. Ein paar große Narben störten zwar noch, aber sie sahen aus, als habe Schwabe als Student auf dem Paukboden ein paar kräftige Durchzieher erhalten.
»Na, wie stehen wir da?« fragte Lisa, als Schwabe nach dem letzten Verbandswechsel in den Spiegel sah. »Fast vier Jahre sind vergangen, und der Kerl sieht jünger aus als vorher.«
Der Spiegel in Schwabes Fingern zitterte. Er mußte ihn mit beiden Händen festhalten. Ich bin es, dachte er ergriffen. Ich bin es wirklich. Ich bin kein Ungeheuer mehr, von dem die Menschen sich abwenden. Ich habe ein narbiges Gesicht. Aber ich habe ein Gesicht. Ich bin wieder der Glaser Erich Schwabe aus Köln.
Wenn das Mutter sehen könnte. Und Ursula.
Er ließ den Spiegel sinken und starrte in Lisas Augen.
»Ich – ich bin wieder da«, sagte er mit einer kläglichen Stimme. »Sie haben mich wieder zu einem Menschen gemacht.«
Und plötzlich umarmte er die Ärztin, drückte das Gesicht an ihre Brust und weinte haltlos. Er klammerte sich an ihr fest, als sie ihn sanft von sich wegdrücken wollte.
»Ich bin wieder ein Mensch«, schluchzte er. »Ich erkenne mich wieder, ich erkenne mich wieder.«
Der ewige Famulus Baumann wischte sich schnell über die Augen. Er tippte Schwabe auf die zuckende Schulter und zog ihn von Lisa weg.
»Mensch, komm vom Tisch 'runter«, sagte er grob. »Nach vier Jahren kannste mal Platz machen für die anderen. Und reiß dich zusammen, Kerl.
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