Das geschenkte Gesicht
wenigen Wochen war Weihnachten. Das Schiff sollte ein Geschenk für eines der vielen Waisenkinder werden, die den Vater in Rußland und die Mutter im Flammenmeer der Städte verloren hatten.
»Was habe ick dir gesagt?« Der Berliner nickte Schwabe zu. »Und du sollst sehen … et is alles halb so schlimm.«
»Ich habe Angst«, sagte Schwabe leise.
»Wovor Angst?«
»Daß mich Mutter nicht erkennt …«
»Quatsch! Sie wird ins Besuchszimmer geführt, und man sagt ihr: Gleich kommt Ihr Sohn. Daß man keinen Falschen bringt, ist doch klar.« Er merkte, daß er zuviel gesagt hatte, und verbesserte sich schnell und verlegen grinsend: »Im übrigen – wieso, du Flasche? Nicht erkennt! Du tust ja so, als ob du nur noch den Hinterkopf behalten hättest! So schlimm ist's nun auch wieder nicht …«
Im Chefzimmer hatte Professor Rusch eine Aussprache mit Dr. Lisa Mainetti. Sie hatten das Telegramm gelesen, und es hatte sich eingebürgert, jeden Besuch im ›Haus der verlorenen Gesichter‹ gründlich durchzusprechen, bevor die Angehörigen vorgelassen wurden.
»Die Mutter kommt.« Professor Rusch faltete die Hände. »Und wenn die Frau mitkommt?«
Lisa Mainetti zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte den Arztkittel ausgezogen und die schwarzen Locken lose über den Schultern liegen. In ihrem engen, einfarbig blauen Kleid sah sie zerbrechlich und aufregend weiblich aus. Ich liebe sie, dachte Rusch. Es ist eine wahnsinnige, nur im Kriege mögliche Liebe, ein Zusammensein auf Zeit mit dem Wissen, daß alles einmal vorbei sein wird, unwiderruflich vorbei …
»Und wenn die junge Frau mitkommt, so werde ich sie nicht vorlassen, wenn es Schwabe nicht will.« Lisa Mainetti streifte die Asche von ihrer Zigarette. »Ich glaube nicht, daß die kleine Frau stark genug sein wird, diesen Anblick zu ertragen. Und wir werden eine Hilfe in der Mutter haben, wenn sie ihren Sohn zunächst allein gesehen hat …«
»Was weiß Schwabe inzwischen selbst von seinem Zustand?« fragte Rusch.
»Wenig. Er weiß, daß wir einige Plastiken machen müssen, und er sieht es ja bei seinen Stubengenossen, aber es ist immer vermieden worden, daß er einen Spiegel in die Finger bekommt oder sonstwie die Möglichkeit hat, sich zu spiegeln. Er glaubt so sehr an ein paar Narben, die zurückbleiben …«
»Mein Gott! Das war ein Fehler, Lisa!« Der Professor starrte die Ärztin entgeistert an. »Wie willst du ihm jemals beibringen, daß er … Er wird doch nie wieder wie ein Mensch aussehen!«
»Willst du ihm das sagen, Walter?«
»Ich? Nein! Aber ich dachte, daß du … wie immer …«
»Ich kann nur hoffen, daß es uns vielleicht hilft, wenn die Mutter da war und er gesehen hat, daß die Menschen sich nicht abwenden von ihm. Wenn er sieht, daß er trotz seines verlorenen Gesichtes ein Mensch geblieben ist. Dann kann man ihn in einer guten Stunde beiseite nehmen und sagen: Mein lieber Schwabe, nun wollen wir einmal ganz ehrlich miteinander reden. Es wird lange dauern …«
»Lange dauern!« Professor Rusch stand auf und ging mit gesenktem Kopf hin und her. »Sein ganzes weiteres Leben wird es dauern …«
»Ich werde es ihm sagen … später … später …« Lisa Mainetti sah auf ihre Armbanduhr. »Gleich wird er erst einmal von Schwester Dora im Park spazieren geführt. Und morgen werde ich den eingeheilten Rollappen an der linken Wange formen, damit er nächste Woche nicht ganz so wild aussieht …«
»Und wann willst du den linken Nasenflügel formen?«
»Frühestens in drei Wochen. Ich brauche ja einen Hautlappen aus der linken Wange. Ich bin froh, wenn ich bis dahin genug Wangenfleisch habe …«
Professor Rusch war ans Fenster getreten und blickte hinaus in den Schloßpark. Über die geharkten Wege zwischen den kahlen Bäumen gingen eine Schwester und ein Mann mit einem zerschlissenen Uniformmantel langsam spazieren.
»Sind sie das?« fragte Rusch. Lisa Mainetti kam an das Fenster.
»Ja. Schwester Dora und Erich Schwabe.«
»Er ist doch ein kräftiger Kerl.«
»Ich habe schon Riesen umfallen sehen.«
Sie sahen aus dem Fenster und beobachteten die beiden einsamen Spaziergänger. Plötzlich umklammerte der Professor das Fensterbrett.
»Was macht er denn da?« schrie er. »Ist der total verrückt geworden? Lisa, sieh dir das an!« Er riß das Fenster auf und brüllte hinunter in den Park. »Bleiben Sie stehen, Sie Idiot! Stehenbleiben! Halten Sie ihn doch fest, Schwester …«
»Zu spät!« Lisa Mainetti lehnte den Kopf an den
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