Das geschenkte Gesicht
Fensterrahmen. Ihr schmales Gesicht war bleich. »Jetzt weiß er es …«
Unter den hohen Bäumen gingen sie spazieren und blieben ab und zu stehen, um die Vögel zu füttern. Dora Graff, die junge Stationsschwester, hatte altes Brot zerbröckelt und Erich Schwabe in einer Tüte gegeben, ehe sie hinausgingen in den Park.
Schweigend hatten sie kurz auf einer Bank gesessen, bis Schwabe sah, wie Dora Graff die Schultern einzog und zitterte. Da waren sie weitergewandert, und Schwabe hatte, so gut es ging, die kalte Dezemberluft in sich aufgesogen. Noch hatte es nicht geschneit, nicht einmal starker Frost war in den Nächten über das Land gefallen. In Rußland, dachte Schwabe, während er die Buchfinken fütterte, weht jetzt der Schneesturm über die Steppe. Dreimal habe ich es mitgemacht. Vierzig Grad Kälte, daß die Hände an den Gewehrläufen kleben bleiben. Wie haben wir über diese Winter geflucht … und später fehlten sie uns, später haben wir sie sehnsüchtig herbeigewünscht, wenn wir im Schlamm steckengeblieben waren oder in der glühenden Sonne brieten wie geplatzte Blutwürste.
Sie waren etwa eine halbe Stunde draußen, als Erich Schwabe zwischen den Bäumen etwas schimmern und blinken sah. Ein Teich, durchfuhr es ihn. Ein richtiger, kleiner Schloßteich.
Er blieb stehen, streute wieder Brotkrumen und schielte zu dem Wasserspiegel hinüber.
Wasserspiegel, dachte er. Spiegel … Spiegel … Natürlich, Spiegel. Eine ruhige Wasserfläche spiegelt …
Der Drang in ihm wurde übermächtig. Sieben Wochen haben sie mir keinen Spiegel gegeben … sieben Wochen lang hat mir keiner gesagt, wie mein Gesicht aussieht. Nur gefühlt habe ich einiges. Pflaster, Verbände, große Narben, Fleischrollen, Hautlappen, Grüfte in meinem Gesicht und Höhlen und Hügel.
Und nun ist ein Spiegel da … ein silberner, riesengroßer Spiegel … ein blanker Teller, auf dem ihm die Wahrheit serviert werden wird.
Er schielte wieder zu Schwester Dora. Sie stand etwas abgewandt und sah zurück zum Schloß. Da warf er die Tüte mit den letzten Brotkrumen hin und rannte dem Teich entgegen.
Er hörte Rufen, einen hellen Schrei, Befehle, schnelle Füße, die ihm nachliefen … da warf er sich nach vorn und rannte mit ausgestreckten Armen wie um sein Leben. Seine Brust stach, in seinen Schläfen hämmerten hundert Hämmer gegen die Hirnwindungen … er spürte, wie die Kraft aus seinen Beinen wich und sein Körper taumelnd schwankte.
Der Spiegel … noch fünf Schritte, noch drei … noch einen …
Dann stand er keuchend am Wasser, beugte sich weit vornüber und starrte auf das Bild, das die blanke Fläche ihm zurückwarf.
Der Kopf eines Ungeheuers. Das Gesicht eines unmenschlichen Wesens. Keine Nase, kein Mund, kein linkes Ohr … einige Fleischrollen auf einem verwitterten, alten Pergament, ein zerklüftetes Etwas mit einem Schlund.
»Nein!« schrie er grell. Etwas Heißes durchraste seinen Körper, vom Hirn bis zu den Zehen, es durchglühte ihn und tauchte ihn gleich danach in das Eiswasser eines unerträglichen Entsetzens.
»Nein! Nein!« brüllte er. Im Wasser sah er, wie die Höhle, die einmal ein Mund gewesen war, in seinem Schreien an beiden Seiten einriß, Blut floß über Kinn und Hals, und der Spiegel des Teichs warf alles zurück in seine Augen … dieses entsetzliche Bild eines schreienden, heulenden, blutenden Ungeheuers.
»Nein!« brüllte Schwabe noch einmal.
Dann breitete er die Arme weit aus und ließ sich ins Wasser fallen.
3
Im gleichen Augenblick hatte die kleine Schwester Dora Graff das Ufer erreicht. Sie weinte laut, während sie Erich Schwabe nachgelaufen war, und sie versuchte noch, mit beiden Händen zuzugreifen, um ihn zurückzureißen. Es war zu spät. Sie faßte ins Leere und sah vor sich den Verzweifelten ins Wasser stürzen, sah einen flatternden, alten Uniformmantel, der sich über der Oberfläche blähte.
Stimmen hinter ihr riefen: »Zurückholen! Packen Sie ihn doch! Schnell!«
Mit einem Ruck riß Schwester Dora ihren Mantel herunter und sprang Erich Schwabe nach. Als das eiskalte Wasser über ihr zusammenschlug, war es ihr, als erstarrte ihr Körper. Dann tauchte sie auf, sah am Ufer zwei Sanitäter mit langen Bohnenstangen und von Block B her Professor Rusch und Dr. Lisa Mainetti herbeieilen. Der aufgeblähte Mantel Schwabes war neben ihr, sie griff mit beiden Händen zu, riß und zerrte an ihm, spürte einen Arm, umklammerte ihn. Zwei Männer waren plötzlich an ihrer Seite und halfen
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