Das geschenkte Gesicht
ihr, Schwabe ans Ufer zu ziehen. Ein Sanitäter wickelte Dora Graff in eine Wolldecke und trug sie im Laufschritt in den Block B. Dort wartete die Oberschwester auf sie und zog ihr die nassen, eisigen Kleider aus.
»Lebt … lebt er noch?« fragte Dora Graff, als sie im warmen Bett lag. Sie war noch völlig erstarrt. Die Antwort der Oberschwester hörte sie schon nicht mehr. Sie schlief ein, erschöpft und von einer Injektion aus der Wirklichkeit weggenommen. Jetzt sterbe ich, war ihr letzter Gedanke. Jetzt bin ich erfroren …
Am Teich lag Erich Schwabe auf zwei dicken Wolldecken. Ein Assistenzarzt kniete neben ihm und pumpte das Wasser aus Lunge und Magen. Aus der Höhle, die einmal ein Mund gewesen war, floß es, zusammen mit Blut, wie ein kleiner Bach und befleckte die Decken.
»So ein dummer Junge«, sagte Lisa Mainetti. »Als ob das eine Lösung aller Probleme wäre …«
»Das wird ihn teuer zu stehen kommen!« Eine kalte Stimme ließ Lisa herumfahren. Oberarzt Dr. Urban stand hinter Professor Rusch, die Hände in den Taschen seiner Offiziersuniform, eine Zigarette im Mundwinkel. Er sah auf den ohnmächtigen Schwabe herab, als betrachte er angewidert einen Abfallhaufen.
»Sie sollten helfen und nicht quatschen!« sagte Lisa Mainetti. Den warnenden Blick des Chefarztes beachtete sie nicht.
»Er gehört zu Ihrer Station, Frau Kollegin!« Dr. Urban warf die Zigarette weg. Sie fiel neben den Kopf Schwabes. Als er mit der Stiefelspitze die Glut austrat, spritzten ein paar Funken auf den frisch eingenähten Rollappen.
Lisa wickelte die nassen Decken um Schwabe und winkte zwei Sanitätern, ihn ins Haus zu tragen. Die Wiederbelebungsversuche waren erfolgreich. Schwabe atmete wieder, röchelnd, pfeifend, und mit seinem Atem verstärkte sich auch die Blutung aus der Mundhöhle.
Dr. Mainetti drängte Dr. Urban ein paar Schritte zur Seite.
Dr. Urban sah zu, wie die beiden Sanis den schlaffen Körper in den Decken zum Block B trugen. Der Assistenzarzt und Professor Rusch folgten. Urban hörte noch, wie der Chefarzt rief. »Gleich in den OP …«, dann wandte er sich an Dr. Mainetti, die am Ufer des Teiches stehengeblieben war. Sie waren allein. Die anderen Verwundeten waren der kleinen Gruppe zum Block B nachgezogen.
Dr. Urban zündete sich eine neue Zigarette an. Er zögerte einen Augenblick, dann kam er zwei Schritte auf Lisa zu und hielt ihr sein Etui hin.
»Als ob ich von Ihnen eine Zigarette nähme«, sagte sie kalt. »Eher rauche ich Heu!«
»Sie kommen sich wohl äußerst stark vor, was?« Dr. Urban klappte das Etui zu.
»Ich fühle mich immer stark.«
»Aber jetzt besonders. Für Sie ist der Krieg bereits verloren, nicht wahr? Der Russe im Anmarsch auf Pommern, der Amerikaner in den Vogesen und vor Aachen. Eine Zange, in der wir zerquetscht werden sollen. Deutschland ist verloren, so glauben Sie, und nun kann man eine große Fresse riskieren.«
Dr. Urban rauchte in hastigen, kleinen Zügen seine Zigarette. Er stand neben Dr. Mainetti, und sie sah, wie seine Finger zitterten, als vibrierten alle Nerven seines Körpers.
»Sie … Sie haben das Morphium weggeschlossen …«, sagte er stockend.
»Haben Sie's gesucht? Ich habe es mit in mein Zimmer genommen! Ich nehme an, daß Sie einen Nachschlüssel zum M-Schrank hatten. Es wurde weniger, obwohl ich ein neues Schloß anbringen ließ.«
»Frau Kollegin …« Dr. Urban warf die Zigarette ins Wasser. Mit zitternden Händen fuhr er sich über das schmale Gesicht mit den kalten, glänzenden Augen. »Ich habe nur noch für einen Tag … ich … verstehen Sie mich … ich …« Er schluckte und wurde kläglich wie ein hungernder Bettler. »Es gibt eine Katastrophe, wenn Sie das Morphium weiter so unter Verschluß halten. Ich habe es einmal erlebt … damals, in der Universitätsklinik … Ich hätte die Oberschwester erwürgen können, die den Schlüssel zum M-Schrank bei sich hatte. Damals ist es noch einmal gut gegangen, ein Kollege half mir … Aber hier …« Dr. Urban trat nahe an Lisa heran. Sie spürte eine heiße Angst in sich aufsteigen, aber sie rührte sich nicht. Anscheinend ruhig und furchtlos sah sie ihm in die flatternden Augen. »Geben Sie mir etwas. Zwingen Sie mich nicht, etwas Schreckliches zu tun … Sie kennen mich noch nicht, Kollegin …«
»Das, was ich bereits von Ihnen kenne, reicht mir vollauf …«
Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Dr. Urban hatte die Hände gefaltet; er preßte die Finger so hart
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