Das geschenkte Gesicht
kleinen Koffer mit dem Nötigsten und stellte ihn zurück in den Schrank. Man braucht nicht viel für eine Übergangszeit. Ein paar Hemden, Seife, Rasierzeug, einen strapazierfähigen Zivilanzug, gutes Schuhwerk, einen warmen Mantel. Geld in genügender Menge – und Morphium. Damit konnte man den ersten Sturm überleben. Die Erschütterung des Zusammenbruchs würde manches vergessen lassen.
Am 7. März standen die amerikanischen Panzer am Rheinufer Kölns und schossen hinüber nach Mühlheim und Deutz. Zweihunderttausend Menschen, der zurück- und übriggebliebene Rest einer Dreiviertelmillion, hockten in den Kellern, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Essen.
Am 7. März zogen die ersten Erkundungstrupps verwundert und vorsichtig, an eine Falle glaubend, über die unversehrt vor ihnen auftauchende Rheinbrücke bei Remagen. Eines der unverständlichen Wunder aller Kriege war geschehen. Das Tor in das Herz Deutschlands war aufgestoßen worden. Der Rhein, das große Hindernis, an dem die Armeen Englands und der USA zerbrechen sollten, wurde überquert wie bei einem Frühlingsspaziergang.
Erich Schwabe kreiste auf seiner Landkarte den Ort Remagen rot ein, als er die Nachricht im Radio hörte und die Meldung, daß der Kommandeur der für die Sprengung der Brücke verantwortlichen Truppen zum Tode verurteilt worden war.
»Der Krieg ist verloren!« sagte er. »Ob wir entlassen oder auch Kriegsgefangene werden?«
»Wieso Kriegsjefangene, wenn's keenen Krieg mehr jibt?« Der Berliner mischte die Skatkarten. Es war das einzige, was ihn etwas ablenkte von seiner Angst um Berlin und seine Mutter. »Wat solln die mit unsera Fresse anfangen?«
»Vielleicht können wir hierbleiben«, sagte Schwabe. »Vielleicht bleibt alles so, wie es ist.«
»Ick spiel' doch nich Landser, wenn Frieden ist! So tief hab' ick die Macke nich im Jehirn!«
»Was sollen wir denn da draußen?« Schwabe sprach jetzt aus, was er in den vergangenen Tagen und Wochen reiflich überlegt hatte. »Wer wird uns operieren? Wollt ihr so 'rumlaufen, wie wir jetzt aussehen? Wer hilft uns denn da draußen? In den Hintern wird man uns überall treten. Nein, Kumpels«, er schüttelte den Kopf. »Hier ist unsere Heimat, hier bei Lisa und dem Chef im Lazarett. Die helfen uns, die machen uns wieder zu Menschen.«
»Und mit am Neger is mei Resi aa bedient!« sagte der Wastl.
Je mehr Deutschland zusammenschrumpfte, um so größer wurde das Rätselraten über ihr weiteres Schicksal, und hundert Vermutungen lösten hundert andere ab.
In den OPs arbeiteten die Ärzte jetzt in zwei Schichten, Tag und Nacht. Schloß Bernegg verlor den Charakter eines Speziallazarettes für Gesichtsverletzte. Von der immer näher rückenden Front spien die Züge und Sankas die zerrissenen Leiber aus. Strohsäcke wurden gefüllt, Decken – die letzten – in Würzburg geholt, jedes normale Bett mußte eine Decke abgeben, in allen Blocks lagen die Gänge und Flure voll Verwundeter auf Strohsäcken, in den Bunkern lagen sie Mann neben Mann, wie Sardinen in einer riesigen Betonbüchse, sogar in der Schloßkapelle brachte man die letzten Transporte unter, einfach auf Strohschütten, weil es keine Säcke zum Stopfen mehr gab.
Ende März fuhr Dora Graff im Auftrag Lisa Mainettis nach Würzburg. In der Heeresapotheke waren neue MO-Ampullen abzuholen. »Ich kann Ihnen keinen Wagen 'rüberschicken!« hatte der Oberapotheker am Telefon gesagt. »Vorgestern hat man alle Fahrzeuge beschlagnahmt und weggeschafft. Muß gewaltig stinken. Wenn Sie jemanden schicken können?«
Dora Graff nahm Fritz Adam mit nach Würzburg. Er fuhr einen alten, in allen Fugen klappernden belgischen Beutesanka der im ehemaligen Pferdestall des Schlosses verrostete. Zum Verwundetentransport war er wegen seiner durchgeschlagenen Federn unbrauchbar geworden. Gerade bei den Kopfverletzten konnten dabei große Schäden angerichtet werden. Da niemand das alte Fahrzeug übernehmen wollte, hatte man es in den Stall geschoben.
Jetzt erinnerte man sich an den Karren. Fritz Adam reinigte die Kerzen, füllte Öl in Motor und Getriebe, Wasser mit Frostschutzmittel in den Kühler und Benzin in den Tank. Er ließ ihn im Pferdestall probelaufen und ratterte auch dreimal auf der Straße vor der Hauptwache hin und her.
›Berneggs Geheimwaffe‹, wie er schnell im Lazarett hieß, erwies sich noch als tauglich, nach Würzburg zu fahren und Morphium zu holen. An einem sonnigen Februartag fuhren Dora Graff und Fritz Adam ab, in Decken
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