Das geschenkte Leben
Irgendwo müssen sie ihre Schiffe registrieren und ihre Pässe ausstellen lassen, oder sie kriegen Schwierigkeiten mit den Hafenbehörden und Küstenwachbooten. Aber wenn sie diese minimalen Erfordernisse beachten, können sie sich fast allem entziehen. Keine Einkommensteuer, keine Gemeindeabgaben, keine Grundsteuer, nichts. Und sie haben keine Sorgen mit Einbrechern und Schlägerbanden auf den Straßen. Dieses letztere ist der beste Teil.«
»Dann ist es also möglich, allen Unannehmlichkeiten den Rücken zu kehren?«
»Nun, nicht ganz. Die meisten von diesen Landflüchtigen haben nach wie vor ihre finanzielle und wirtschaftliche Basis in den Staaten. Um sie zu verwalten, haben sie eine Briefkastenfirma auf den Bahamas, oder in Panama. Und natürlich haben sie Radiotelefon und Fernschreiber an Bord. Es ist ja nicht so, daß sie einfach den Fliegenden Holländer spielen können. Ein Schiff muß dann und wann überholt werden, es braucht Treibstoff und Wasser. Liegegebühren und Reparaturen müssen bezahlt werden, und egal, wieviel Fisch einer ißt, erbraucht auch andere Lebensmittel. Nur ein Geisterschiff kann ewig auf See bleiben, richtige müssen in Abständen einen Hafen anlaufen.« Jake Salomon blickte nachdenklich über das Wasser hinaus. »Aber dem Ideal von ›Frieden‹ und ›Freiheit‹ kommt man näher als es auf dem Land möglich ist. Joan Eunice – soll ich dir was sagen, was ich tun würde, wenn ich jung wäre?«
»Was, Jake?«
»Sieh da hinauf.«
»Wohin, Liebster? Ich sehe nichts.«
»Dort.« Er zeigte.
»Der Mond?«
»Richtig! Joan Eunice, das ist der einzige Ort, wo noch viel Platz ist, wo es nicht zu viele Menschen gibt. Wer unter der zulässigen Altersgrenze ist, sollte wenigstens versuchen, dorthin auszuwandern.«
»Ist das dein Ernst, Jake? Die Raumfahrt ist sicherlich von wissenschaftlichem Interesse, aber ich habe nie viel praktischen Wert darin gesehen. Gewiß, es gibt ein paar brauchbare technologische ›Abfälle‹. Fernsehsatelliten und so weiter. Aber der Mond selbst? Ein Leben als Maulwurf, ohne das Grün von Bäumen, ohne blauen Himmel und frische Luft? Außerdem ist die Mondkolonie allein gar nicht lebensfähig.«
»Joan Eunice, welchen Sinn hat dieses Baby in deinem Bauch?«
»Ich hoffe, Sie scherzen, Sir.«
»Liebling, ein Neugeborenes ist das nutzloseste Ding, das man sich vorstellen kann. Es ist nicht einmal schön – außer für seine liebenden Eltern. Es ist allein nicht lebensfähig, und es ist unvernünftig teuer. Zwanzig bis dreißig Jahre vergehen, bis die Investition sich auszuzahlen beginnt, und in den meisten Fällen zahlt sie sich nie aus. Denn es ist viel leichter, ein Kind zu erhalten, als es so aufzuziehen, daß etwas aus ihm wird.«
»Oh, aus unserem Baby wird einmal etwas!«
»Ich glaube es auch, soweit materielle Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen. Aber sieh dich um; meine Verallgemeinerung deckt sich mit der Wirklichkeit. Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten hat ein Baby einen einzigartigen symbolischen Wert. Es ist immer die Hoffnung unserer Rasse. Ihre einzige Hoffnung.«
Sie lächelte. »Jacob, du bist ein anstrengender Mann. Ich muß mich über dich ärgern. Wenn du so redest, machst du mich unsicher und melancholisch.«
»Das macht nichts, Liebling; ein bißchen Ärger ist gut für den Kreislauf. Schau hinauf in den Himmel. Das ist auch ein neugeborenes Baby. Die beste Hoffnung, die unserer Rasse geblieben ist. Wenn diese Baby lebt, lebt die menschliche Rasse. Wenn wir es sterben lassen, dann wird auch die Rasse sterben. Ich denke nicht an Wasserstoffbomben. Wir sehen uns viel größeren Gefahren gegenüber. Wir sind sehenden Auges in eine Sackgasse gerannt und sind nun an ihrem Ende angekommen. Wir können nicht in der eingeschlagenen Richtung weitergehen – und wir können nicht zurückgehen – und wir sterben in unseren eigenen Giften. Deshalb muß die kleine Mondkolonie überleben. Weil wir nicht überleben können. Es ist nicht die Drohung eines Vernichtungskriegs, oder die Kriminalität und Gewalt auf den Straßen, oder die Korruption in der Regierung, oder die Vergiftung der Luft und des Wassers durch Pestizide, Smog und Industrieabfälle; diese Erscheinungen sind nur Symptome der Krebserkrankung, die längst augenfällig geworden ist: zu viele Menschen. Nicht zu viele Neger oder Chinesen oder Inder, einfach – zu viele. Sieben Milliarden Menschen, die einander auf die Füße treten. Die meisten von ihnen sind liebenswerte
Weitere Kostenlose Bücher