Das geschwaerzte Medaillon
zusammengefaltete Papier minutenlang an. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich noch einmal lesen wollte. Ich legte den Brief neben mich und beschwerte ihn mit einem Stein. Meine Füße schlugen wieder gegen die Felswand, während sie über der breiten Felsspalte pendelten. Kleine Steinchen lösten sich und fielen in die nie endenwollende Schlucht. Erst jetzt nahm ich die Vogelgesänge um mich herum wahr und fragte mich, seit wann die Vögel zurück waren. Und überhaupt schien die ganze Welt wieder erwacht zu sein, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
Ich atmete einmal tief ein und nahm den Stein vom Brief, wobei ich aufpasste, mich nicht wieder an einer scharfen Kante zu schneiden. Unwillig faltete ich den Brief auseinander und las ihn erneut. Nicht nur einmal, auch nicht zweimal ... Ich lass ihn viermal. Seine Bedeutung veränderte sich jedoch nicht und ich fand auch keine versteckte Botschaft oder etwas anderes, das ich zwischen den Zeilen hätte lesen können. Da war nichts. Rein gar nichts. Ich spürte die Wut in mir aufkochen und die Hitze in meinen Kopf steigen.
»Alter, mieser Sack!«
Das, was ich vorhin zurückgehalten hatte, brach nun in Form von sämtlichen mir bekannten Schimpfwörtern aus mir heraus. Ich wartete nur darauf, dass die Vögel bei meinem Gefluche aus den umstehenden Bäumen flüchteten.
»Wie kann dieser Mistkerl, dieser Arsch, uhh ...«, brüllte ich und stampfte mit den Füßen in die sandige Erde.
»Wie kann er es wagen? Schon wieder! Zehn. Nein fast elf Jahre kein Wort und jetzt will er mich gleich zweimal kurz hintereinander in etwas rein schubsen, von dem ich keine Ahnung habe! Verblödeter, vergesslicher, alter Sack!«
Je länger meine Beschimpfungen anhielten, umso wütender schien ich zu werden. Es war nicht direkt der Brief, sondern das, was er bedeutete und das, was er in mir auslöste. Ich war schon längst aufgesprungen und lief die Kante auf und ab, wobei ich auch nicht gerade wenig Staub aufwirbelte, und zum Teil legte ich es darauf an.
»Das kann er nicht machen! Nicht einfach so! Nicht schon wieder! Nicht mal eine Adresse oder wenigstens eine E-Mail-Adresse. Nichts! Und dann unterschreibt er mit Paul Ericson. Das ist nicht sein Name! Und brauchen tut er ihn auch nicht mehr! Was soll dieses Maskeradespiel? So was Kindisches und das von einem alten Mann! ›Du bist das Oberhaupt und somit ist es deine Aufgabe, dem nachzugehen, und solltest du auf etwas stoßen, so musst du die Bewohner von Alanien davor beschützen‹, äffte ich meinen Großvater nach. Ich habe nicht darum gebeten eine Seelenseherin zu sein! Geschweige denn das Oberhaupt eines Ordens, über den ich so gut wie absolut nichts wusste.
»Schön, ihm kommen die Entführungen merkwürdig vor, aber das findet auch jeder andere in Alanien! Was genau kann ich tun, was die Polizei nicht schon getan hat!«
Ich kickte einen Stein in die Schlucht. Ich wusste, dass ich mich selbst belog. Ich konnte mehr tun als die Polizei. Ich hatte Wissen, das die Polizei nicht besaß, und zwar das Wissen um Magie, und ich hatte eine Fähigkeit, die auch nicht besonders verbreitet war. Es war das Aufgezwungene, das mich so erzürnte. Die Formulierungen, dass ich mal wieder keine Wahl hatte. Dass ich nicht Herrscher über mein eigenes Leben war, sondern mir dieses von meinem Erbe diktiert wurde. Ich hasste dieses Gefühl, keinen Ausweg zu haben. Ich wollte nicht wieder unter der Last ersticken und trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, dem Drängen meines Großvaters nachzukommen. Ich hasste mich dafür, dass ich mich dem nicht wiedersetzte. Ich kickte weiter Steine in den Abgrund und fluchte immer weiter vor mich hin. Meine Flüche wurden unterbrochen, als mich ein Kitzeln in meiner rechten Hosentasche ablenkte. Ich zog mein Handy heraus und sah auf das Display. In weißen Buchstaben stand dort Keira. Ich atmete ein paar Mal ein und aus und versuchte meiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen.
»Hey, was gibt’s?«, fragte ich so unbefangen wie möglich.
»Wo bist du?«, erklang Keiras Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Nicht mal ein ›Hallo‹ dachte ich missmutig.
»Unterwegs. Besorgungen machen.«
Es blieb einen Moment ruhig, was ich als kein gutes Zeichen interpretierte.
»Besorgungen? Hast du dafür nicht deine zwei Hausangestellten? Außerdem meinte Craig, du würdest zu mir kommen. Ich hab bei dir daheim angerufen.«
Sie war misstrauisch. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, dass Keira
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