Das geschwaerzte Medaillon
Horrornacht gefragt und ich hatte auch nicht mehr davon angefangen. Sie nahmen hin, dass es ein Unfall war und ich dachte nicht daran sie eines Besseren überzeugen zu wollen. Ihre Welt heil zu lassen war mehr in meinem Interesse und ich redete mir ein, dass es ein Albtraum gewesen war. Auch wenn ich genau wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Wir hatten inzwischen den siebenundzwanzigsten Mai. Das verrückte Wetter würde sich hoffentlich bald verabschieden. Man wusste nie, welche Kleidungsstücke am nächsten Tag benötigt wurden. Heute war ein langärmliges Shirt ausreichend. Gestern war ich in meinem Lieblingspulli durch den Tag gegangen.
Die Sonne verteilte gerade ihre wohlig warmen Strahlen, als ich die Einfahrt hinunter zum Briefkasten lief. Ich ärgerte mich immer wieder darüber, wie mein Großvater – oder wer auch immer meiner Vorfahren - auf die Idee gekommen war, den Briefkasten soweit vom Haus entfernt aufzustellen. Ich winkte meinem Gärtner Mister Kelson zu, als ich gerade die Einfahrt erreichte. Er pflegte die Beete, die sich zwischen den Bäumen die Einfahrt hinauf schlangen. Ohne Gärtner würde ich in einer trockenen Einöde wohnen. Ich schaffte es, jede Pflanze umzubringen. Wenn ich sie nicht vertrocknen ließ, ertränkte ich sie. Ich hatte es noch nicht geschafft, das Mittelmaß zu finden.
Der Briefkasten knarrte, als ich ihn aufzog. Er war einer dieser altmodischen, die ein Fähnchen hatten, das anzeigte, ob Post da war. Ich musste daran denken, die Klappe zu ölen oder den Rost irgendwie zu entfernen. Was auch immer gegen dieses Knarren helfen würde. Die Post stapelte sich im Innern und wurde von der heutigen Zeitung auch noch zusätzlich zusammen- gequetscht. Ich warf unbewusst einen Blick auf die Titelseite. Das Gesicht eines Jungen blickte mir entgegen. Er war sicher erst neun und schien ein aufgeweckter kleiner Kerl zu sein. Sein Lächeln war von der Sorte, das ansteckte und einen durch den Tag trug. Ungewöhnlicherweise war es ein Farbfoto. Für gewöhnlich druckte die Zeitung nur schwarz-weiß. Ich legte die restliche Post auf die flache Sandsteinmauer, die die Einfahrt einrahmte. Ich schlug die Zeitung auf, um die Schlagzeile lesen zu können.
„Benjamin Derian, Nummer dreiundzwanzig?“
Ich starrte auf die Überschrift und fing dann langsam an zu lesen. Benjamin war gerade mal acht. Seine Eltern waren mit ihm in der Nähe des Waldrandes von Weralt spazieren gewesen. Seine Mutter hatte sich nur einen Moment abgewandt, um mit einer zufällig getroffenen Bekannten zu reden. Als sie wieder nach ihrem Sohn sehen wollte, war dieser nirgends zu finden. Nach dem Bericht hatte die Polizei Tage damit verbracht, den Wald nach dem Jungen abzusuchen. Ohne Ergebnis. Nun gingen sie davon aus, dass auch Benjamin entführt wurde. Ich sah unverwandt in die hellen braunen Augen, die mich so unschuldig von der Zeitung aus ansahen. Eine Träne fiel auf das Zeitungspapier und verschmierte die Tinte. Ich zerknitterte die Zeitung, als ein Funken des Gefühles in meinem Magen aufflammte.
»Nein. Nicht schon wieder«, sagte ich zu niemand Bestimmten. Mister Kelson sah auf und schien für einen Moment verunsichert, ob ich mit ihm geredet hatte. Vor Wut ballte ich die Hand, in der ich die Zeitung hielt, zu einer Faust. Das Papier knirschte und verzerrte das junge Gesicht zu einer merkwürdigen Fratze. Ich versuchte, mich zu beruhigen und dachte, dass das Sortieren der restlichen Post dabei helfen würde. Rechnung, Rechnung, Werbung, Rechnung und noch mehr Rechnungen. Als ich zum letzten Briefumschlag kam, sah ich verwundert auf den Absender. Paul Ericson.
Paul Ericson war der Name, unter dem mein Großvater nun lebte. Zumindest hatte er das zu der Zeit des Zirkels. Warum hatte er nicht seinen richtigen Namen wieder angenommen? Verwundert riss ich den Briefumschlag an einer Ecke ein und zog den Brief heraus. Die krakelige, fast nicht mehr leserliche Schrift meines Großvaters nahm unverkennbar das gesamte Papier ein. Ich hatte seit dem Tag auf der Terrasse des Hotels in Solem nichts mehr von ihm gehört. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt etwas von ihm hören wollte. Ich hatte ihm nie richtig verziehen, dass er mich mit neun Jahren alleine gelassen hatte und das hatte sich bis heute nicht geändert, obwohl ich nun seine Gründe kannte. Ich klemmte mir den Rest der Post, zusammen mit der Zeitung, unter den Arm und lief die Auffahrt zurück, während ich anfing den Brief zu
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