Das geschwaerzte Medaillon
Sobald ein Lied anschlug, dessen Töne ahnen ließen, dass es nicht meinem Geschmack entsprach, wechselte ich den Sender. Meine Laune stieg mit jedem Lied, das ich kannte und teilweise sogar mitsang. Es machte die lange Fahrt erträglicher und hielt meine Gedanken in Schach. Zuviel nachdenken tat niemandem gut und erst recht nicht mir, wenn ich nicht wusste, mit was ich es zu tun hatte. Die Stunden verflogen schneller, als ich es erwartet hatte oder mitbekam. Das Fahren hatte etwas Beruhigendes, das meine Gedanken zumindest ein wenig zu ordnen schien.
Es war kurz nach zehn, als ich in das Dorf Meldon kam. Es war ein winziges Dorf. Man konnte quasi alle Häuser sehen, wenn man die Hauptstraße entlang lief. Es bestand, einfach gesagt, aus ungefähr sechs Familienhäusern, einem Supermarkt und, merkwürdigerweise, auch einem Hotel. Genau dieses war jetzt mein Ziel. Eine Matratze war immer verlockender als ein nach hinten gestellter Autositz. Ganz im Gegenteil zu Solem war es hier kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Es sah nicht einmal danach aus, als würde hier irgendjemand ein Auto besitzen. Als ich die Tür meines eisblauen Mustangs zuschlug, überkam mich ein Kälteschauer. Sofort wechselte ich in die Seelensicht. Ich erwartete jedes Mal, dass rote Seelenenergien anfingen mich einzukreisen. Doch da war nichts. Und nichts bedeutete, absolut nichts. Keine einzige Seele war in diesem Dorf. Nicht eine. Das Dorf war tot. Schnell griff ich in meine Tasche und zog die Dolche heraus. Es war zwar kein Mensch hier, aber damals, in der Höhle, hatte ich auch keine Seelenenergie gesehen. Ich würde nicht wieder blind in ein Wesen rennen, das ich nicht kannte, geschweige denn sehen konnte. Meine Hände umklammerten die mit Leder eingebundenen Hefte der Dolche. Vorsichtig drückte ich die Tür auf. Es war nicht wirklich eine Überraschung, dass sie nicht zugeschlossen war. Sie war noch nicht mal richtig zu gewesen. Ich blieb neben der Tür stehen und lauschte in das Halbdunkle hinein. Die Schreibtischlampe hinter der Rezeption brannte noch und verströmte ein diffuses, warmes, gelbes Licht. Ich konnte immer noch keine leuchtenden Punkte sehen - egal welcher Farbe - die darauf hinwiesen, dass sich Leben in diesem Haus befand.
Vorsichtig und sehr darauf bedacht kein Geräusch zu machen, schlich ich weiter in den Raum hinein, wobei ich mich an der Wand entlang schob. So konnte mich wenigstens keiner von hinten überraschen. Ich erstarrte zu Eis, als etwas unter meinen Füßen verräterisch knirschte. Ich wartete minutenlang, ohne mich zu bewegen. Ich wartete darauf, dass mich irgendetwas anfallen würde.
Es blieb ruhig. Nur langsam traute ich mich, auf den Boden zu sehen. Das, was das Geräusch verursacht hatte, war Erde. Erdklumpen waren überall auf dem Boden verteilt. Sie bildeten regelrecht eine Spur und führten durch das gesamte Hotel. Auch wenn jede Faser in meinem Körper schrie ›Raus hier!‹, weil ich mich erneut fühlte, als wäre ich Teil eines schlechten Horrorfilms. Die Szene, bei der jeder weiß, dass gleich der Mörder auftaucht und die Protagonistin trotzdem so dumm ist und in das dunkle Zimmer geht. Ich war die Protagonistin und dennoch musste ich einfach nachsehen, ob in diesem Hotel nicht doch irgendetwas war. So winzig das Dorf war, so klein war auch das Hotel. Vier Zimmer und ich stand vor Zimmer Nummer eins. Den Dolch im Anschlag schlich ich hinein, wobei es immer wieder unter meinen Füßen knirschte. Die Erde war einfach überall. Egal, in welches Zimmer ich ging, der Anblick war immer derselbe. Das Bett war zerwühlt, die Schränke aufgerissen und jede Schublade herausgezogen. Jemand hatte jedes einzelne Zimmer durchsucht. Was auch immer er gesucht hatte, ich glaubte nicht, dass er fündig geworden war. Mit flauem Gefühl im Magen verließ ich das Hotel und ging zum nächsten Haus. Ich ahnte schon, was ich dort vorfinden würde. Es war ein ganz normales Familienhaus. An der Klingel stand der Name Berton. Auch hier stand die Tür offen. Es war wie im Hotel. Jedes Zimmer war durchsucht und überall lagen Erdklumpen. Es war unheimlich. Das ganze Dorf war geflohen. Zumindest hoffte ich das.
Ich war innerhalb weniger Minuten wieder auf der Straße und drehte mich einmal langsam im Kreis. Jedes Haus war verlassen. Und jetzt sah ich selbst auf der Straße Erdklumpen. Langsam schritt ich die Straße hinunter, während mein Schatten mir vorausging. Eine Geisterstadt. Was anderes war Meldon nicht mehr.
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