Das Gesetz der Neun - Goodkind, T: Gesetz der Neun - The Law of Nines
sich.«
»Nein, ich meine es ernst, Ben. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass sie mich beobachten.«
»Du meinst, du siehst dich, wie du dich selbst beobachtest.«
»Nein.« Zu guter Letzt sah er seinen Großvater an. »Was ich meine, ist, dass ich das Gefühl habe, jemand anderer beobachtet mich durch die Spiegel.«
Ben sah ihn an. »Jemand anderer.«
»Ja.«
Alex fragte sich, woher sie das gewusst haben mochte.
Allmählich begann er ernstlich daran zu zweifeln, dass sie real gewesen war. War es möglich, dass er sich das Ganze nur eingebildet hatte?
Fing es bei ihm jetzt ebenfalls an? Er unterdrückte einen Anflug von Panik, als ihm der Gedanke kam.
»Lass deine Fantasie nicht mit dir durchgehen, Alex«, sagte sein Großvater und wandte sich wieder seiner Arbeit an der Werkbank zu.
Alex’ Blick verlor sich abermals in düsteren Erinnerungen.
»Glaubst du, ich werde am Ende auch den Verstand verlieren?«, murmelte er nach einer Weile.
Als er sich in der Totenstille umwandte, sah er, dass sein Großvater seine Bastelei an der abgenutzten Werkbank unterbrochen und den Kopf gehoben hatte und ihn mit einem ungewohnt harten, mürrischen Blick musterte.
Alex fand den Blick beängstigend, denn er sah seinem Großvater, oder zumindest dem Mann, den er kannte, so gar nicht ähnlich.
Schließlich verscheuchte ein faltenreiches Lächeln den bedrohlichen Blick. »Nein, Alex«, erwiderte der alte Mann sanft, »das glaube ich ganz und gar nicht. Was bringt dich ausgerechnet an deinem Geburtstag auf solch bedrückende Gedanken?«
Alex lehnte sich zurück, gegen die Holzverkleidung des Winkels unter dem Treppenschacht, so dass er für den Spiegel an der Wand links von ihm nicht zu sehen war. Er verschränkte die Arme.
»Ich bin im selben Alter, weißt du. Heute werde ich siebenundzwanzig, genauso alt, wie sie war, als sie krank wurde … als sie den Verstand verlor.«
Der alte Mann stöberte mit einem langen Finger in einem zerbeulten Aluminiumaschenbecher, der von einem Sammelsurium nicht zusammenpassender Schrauben überquoll. Ben hatte diesen Aschenbecher voller Schrauben schon, solange Alex zurückdenken konnte. Die Suche fiel nicht eben überzeugend aus.
»Alexander«, sagte Ben mit einem leisen Seufzer, »ich habe deine Mutter damals zu keinem Zeitpunkt für verrückt gehalten, und das tue ich auch heute noch nicht.«
Alex hatte nicht den Eindruck, dass sich Ben jemals mit der traurigen Wirklichkeit abfinden würde. Nur zu gut waren ihm die hysterischen Anfälle seiner durch nichts zu beruhigenden Mutter in Erinnerung, mit denen sie sich irgendwelcher Fremden erwehrte, die es angeblich auf sie abgesehen hatten. Er hielt es für ausgeschlossen, dass die Ärzte sie achtzehn Jahre lang in einer geschlossenen Anstalt einsperrten, ohne dass sie ernsthaft geisteskrank wäre, aber das sagte er nicht laut. Schon der unausgesprochene Gedanke erschien ihm grausam.
Er war neun Jahre alt gewesen, als man seine Mutter einlieferte, ein zartes Alter, in dem Alex nichts begriff. Er hatte damals schreckliche Angst gehabt. Seine Großmutter und Ben nahmen ihn bei sich auf, gaben ihm Liebe, sorgten für ihn und wurden schließlich seine gesetzlichen Vormunde. Dass sie vom Haus seiner Eltern nur ein Stück die Straße hinunter wohnten, bewahrte eine gewisse Beständigkeit in seinem Leben. Seine Großeltern hielten das Haus sauber und in Schuss für den Fall, dass seine Mutter sich erholte und entlassen wurde – und schließlich nach Hause zurückkehrte. Es war nie dazu gekommen.
Während er mit den Jahren heranwuchs, ging Alex von Zeit zu Zeit hinüber, gewöhnlich nachts, um sich ganz alleine in das Haus zu setzen: für ihn die einzig fühlbare Verbindung zu seinen Eltern. Es schien eine andere Welt zu sein, stets gleich, alles an seinem Platz erstarrt, wie eine stehen gebliebene Uhr. Es war die unveränderliche Erinnerung an ein jählings unterbrochenes Leben, ein Leben in der Schwebe.
Es vermittelte ihm das Gefühl, seinen Platz in der Welt nicht zu kennen, so als wüsste er nicht einmal, wer er selber war.
Manchmal – nachts vor dem Schlafengehen – überkam ihn die Sorge, dass auch er letztendlich einer Geisteskrankheit zum Opfer fallen könnte. Er wusste, dass diese Dinge in der Familie
lagen, Geisteskrankheit erblich war. Als kleiner Junge hatte er andere Kinder darüber tuscheln hören, wenn auch nur hinter seinem Rücken. Aber das Getuschel war stets gerade laut genug gewesen, dass er es mitbekam.
Und
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