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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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verspürte, sich umzudrehen, um einen möglichen Verfolger zu ertappen. Es war ein Gefühl, wie wenn ein Zug, der zu entgleisen droht, unversehens wieder zurück in die Schienen rutscht und ruhig weiterfährt. Wie wenn ein Puzzleteil sich passgenau in ein anderes fügt und die Trennungslinie verschwindet.
    Der Treffpunkt, den Karl Killesreiter ihr am Telefon vorgeschlagen hatte, war ihr zunächst etwas merkwürdig vorgekommen. Sie kannte den nackten Laubengang hinter dem Hofgarten mit Blick auf die pompösen leeren Glasfronten der Staatskanzlei, an dessen Anfang ein glänzend schwarzer Kubus an die Widerstandsbewegung der Weißen Rose erinnerte. Von dort betrachtet wirkte das Regierungsgebäude merkwürdig entrückt, ein kalter, seelenloser Fremdkörper, den man ans andere Ende des eleganten Gartens mit den italienisch anmutenden ockergelben Arkaden gepflanzt hatte, wie um ein Exempel zu statuieren. Wir können auch anders, drohte dieses protzige, überdimensionale Gebäude der städtischen Gelassenheit. Dort oben, mit der Staatskanzlei im Rücken oder im Blickfeld, wie auch immer, wollte sich Herr Staatsanwalt Killesreiter mit ihr treffen. Clara hatte zugestimmt. Es war ihr im Grunde egal, sie war bereits dankbar dafür, nicht nach Deggendorf reisen zu müssen, was sie zunächst befürchtet hatte, nachdem ihr Herr Killesreiter gestern kurz und bündig erklärt hatte, nicht am Telefon über Richter Oberstein sprechen zu wollen.
    Er wartete bereits auf sie. Ein hagerer Mann mit zerfurchtem Gesicht und einer Hakennase. »Sie haben Probleme mit unserem Richter Oberstein«, stellte er, nachdem sie sich begrüßt hatten, ohne große Umschweife fest, während er sie aus kleinen dunklen Augen scharf musterte.
    Clara nickte. »Kann man wohl sagen«, entgegnete sie und begann, in kurzen Sätzen Malafontes Verhandlung zu beschreiben.
    Der schmale Mund des Mannes verzog sich zu einem schiefen Grinsen, das seine Falten noch stärker hervortreten ließ. Er hatte ein Gesicht wie eine geschnitzte Marionettenfigur. Es war jedoch unmöglich zu sagen, ob es den Kasperl oder den Teufel darstellen sollte. »Lassen Sie uns ein wenig gehen«, meinte er und machte eine elegante Bewegung zurück in Richtung Hofgarten. Hinter der Theatinerkirche begann sich der Himmel langsam zu färben, bald würde es dunkel werden.
    Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, und Clara spürte, wie ihr der Staatsanwalt immer wieder prüfende Blicke zuwarf. Sie dachte bei sich, dass sie als Angeklagte höchst ungern den durchdringenden Augen von Karl Killesreiter ausgesetzt sein würde. Schwer zu sagen, was dahinter vor sich ging.
    »Was halten Sie von der Strafe?«
    »Äh, wie bitte?« Clara war verwirrt. Hatte sie richtig verstanden? Was war das für eine Frage?
    Karl Killesreiter präzisierte sie umgehend und in einem schneidend ironischen Ton, als äffe er jemanden nach, den er ganz besonders verabscheute: »Finden Sie, dass Bestrafung ein adäquates Mittel ist, um das Verbrechen zu besiegen?« Er blieb stehen. Seine kleinen Augen zusammengekniffen, fixierte er Clara aus schmalen Schlitzen, das Kinn abwartend erhoben.
    Clara erwiderte seinen Blick ein wenig ratlos: »Nun, ich würde sagen, es ist wohl das einzige Mittel, oder?« Sie zuckte mit den Schultern. Was sollte das hier werden?
    Killesreiter schob die Hände in die Taschen seiner dunklen Jacke und nahm den Spaziergang wieder auf. Sie bogen in die labyrinthartigen Wege ein, die sich um den kleinen Pavillon des Hofgartens herumwanden. Die Geigenmusik klang überirdisch, entrückt und machte Clara ein wenig traurig, aber auf eine angenehme Art und Weise, wie ein schöner, trauriger Film oder ein Gedicht. Sie warf ihrem Begleiter einen vorsichtigen Blick zu. Hörte er die Musik überhaupt? In der zunehmenden Dunkelheit schien er mit den Schatten um ihn herum zu verschmelzen wie ein kleiner schwarzer Knoten auf dem hellen Kiesweg, nur sein Gesicht leuchtete hell.
    »Nun«, nahm er den Faden wieder auf. »Ich bin seit über fünfundzwanzig Jahren Staatsanwalt und bin nach wie vor der Ansicht, dass Bestrafung zu überhaupt nichts nütze ist. Sie kann kein Verbrechen verhindern und keinen Verbrecher zu einem guten Menschen machen.« Er machte eine abwartende Pause.
    Clara schüttelte langsam den Kopf. Was wollte dieser Mann von ihr? Sollte sie sich jetzt in ein theoretisches Streitgespräch verwickeln lassen? Oder wollte Killesreiter nur provozieren? Clara begann unweigerlich, gewisse

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