Das Gesetz Der Woelfe
anzurufen, sobald er in Bozen angekommen war. Angelo hatte kaum reagiert. Abwesend hatte er auf die Handschellen gestarrt. Die Beamten hatten sich geweigert, sie abzunehmen, und als Begründung angeführt, Herr Malafonte habe bereits in der Justizvollzugsanstalt einen Fluchtversuch unternommen.
Clara stand am verwaisten Gleis. In der Ferne verloren sich die Schienen in einem silbernen Gewirr, noch weiter draußen würden sie sich wieder voneinander lösen und in alle Himmelsrichtungen verzweigen. Sie drehte sich um und ging zurück in die Bahnhofshalle. Reisende kamen ihr entgegen mit großen, schweren Koffern, die sie auf Rollen hinter sich herzogen. Pendler mit schmalen Aktentaschen und müden Gesichtern, Kaffeebecher in den Händen, die mit einem Schnabel am Deckel versehen waren wie für sabbernde Greise oder Kleinkinder. Clara hasste diese Sorte Kaffee, die es jetzt überall in der Innenstadt in hippen, kalten Lounges zu kaufen gab: mit fettarmer Sprühschaummilch und Karamell- oder Vanillegeschmack. Dünn und glühend heiß wie brennendes Wasser ohne einen Funken echten Aromas. Sie würde auch nie begreifen können, warum man überhaupt Kaffee trank, wenn man nicht einmal die Zeit hatte, sich dafür zehn Minuten hinzusetzen.
Vor der Tür wartete Willi geduldig in seinem Auto. Schlechtes Gewissen überkam Clara unvermittelt, als sie daran dachte, wie sie ihm gestern den Abend mit Linda missgönnt hatte. Sie umarmte ihn heftig, als sie einstieg, und vergrub einen Augenblick ihr Gesicht in der weichen Wolle seines Sakkos. Es roch gut, nach Pfeifentabak und echtem würzigem Kaffee. »Tut mir leid«, murmelte sie leise in seinen Ärmel, dann richtete sie sich wieder auf und schnallte sich an.
»Was hast du gesagt?«, fragte Willi und startete seinen alten Volvo, der wie auf Wolken schwebend den Taxistand umrundete und zurück in Richtung Kanzlei fuhr, wo Elise bei Rita auf sie wartete.
»Ich habe mich bedankt«, log Clara und meinte es dennoch ernst. Sie wollte lächeln, doch es geriet ziemlich kläglich, und Willi drückte ihre Hand.
»Du musst dir nichts vorwerfen, Clara. Du konntest nichts dagegen tun.«
Clara nickte und starrte aus dem Fenster in die beginnende Dunkelheit. »Ich weiß. Aber trotzdem …« Sie konnte nicht in Worte fassen, was sie empfand. Dieses Gefühl der Ohnmacht, die hilflose Wut und die nagende Furcht, einen Fehler begangen zu haben. Hätte sie es vorhersehen können? Hätte sie anders handeln, sich absichern müssen, dass so etwas nicht passiert? Sie schüttelte müde den Kopf. Die ganze Sache war geplant gewesen: Die Höhe der Strafe genau so, dass sie noch ausreichte, um eine Abschiebung zu verfügen, der ganze zeitliche Ablauf, das lange Warten auf Angelos Entlassung, sodass keine Zeit mehr blieb, um etwas gegen die Abschiebung zu unternehmen. Sie hätte nichts tun können. Sie waren vorgeführt worden, und am Ende hatten die anderen gewonnen. Sie hatten das erreicht, was sie vor Augen gehabt hatten, ihre Vorgaben erfüllt. Angelo war weg. Ein weiterer krimineller Ausländer in der so erfolgreichen bayerischen Abschiebestatistik. Würde er sich bei ihr melden? Oder irgendwie versuchen, nachhause zu kommen, trotz seiner Angst? Würde sie es überhaupt jemals erfahren? Oder würde es im Dunkeln bleiben, wie so vieles an diesem gottverdammten Fall. Sie atmete tief ein und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Ihre Augen brannten. Sie musste weitermachen, etwas unternehmen, sie musste … doch dann schüttelte sie den Kopf. Es war vorbei. Sie hatte verloren.
Doch es war nicht vorbei.
Am frühen Morgen, nur wenige Tage nach Angelos Abschiebung klingelte bei Clara zuhause das Telefon. Als sie abhob und ihr die Stimme am anderen Ende den Grund des Anrufes mitteilte, war es, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie aus weiter Ferne hörte sie sich antworten, und ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor, tonlos, ohne jeden Klang. »Ich komme«, sagte sie nur, dann legte sie auf.
TEIL ZWEI
Die unsichtbare Seite des Mondes
Mimmo Battaglia schlief schlecht, und wenn er wach war, ging es ihm auch nicht gut. Die Zeit verrann vor seinen Augen, und es blieb nur noch wenig übrig. In drei Tagen war das Fest der Frühlingshexe. Auf diesem Fest startete Filippo seine Aktion, und Mimmo würde dabei sein. Er hatte es dem Jungen versprochen, als dieser ihn vor ein paar Tagen noch einmal angerufen und sich vergewissert hatte. Mimmo Battaglia wusste genau, was für Filippo
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