Das Gesetz Der Woelfe
»Alles Gute, avvocato .«
Die Glastür schloss sich mit einem sanften Klacken und nahm ihr den Blick auf den aufgebahrten Körper. Sie presste ihre Hand gegen den Mund, überwältigt von dem Gefühl der Endgültigkeit, der Unausweichlichkeit des Todes, das sie beim Anblick der Leiche erfasst hatte. Die Hand noch immer an ihren Mund gepresst, wandte sie sich von der Tür ab und ging langsam den Gang zurück zum Ausgang.
Raffaela saß auf einem Pfeiler am Straßenrand und wartete auf sie. Als sie Claras Gesicht sah, meinte sie mitfühlend: »Haben Sie ihn sehr gut gekannt?«
Clara zuckte mit den Schultern, und eine Wolke aus Trauer senkte sich auf sie nieder wie ein Gespinst, das das Licht trübt und die Atemluft schal macht. »Eigentlich gar nicht. Es war nur …« Sie brach ab und überlegte, wie sie Raffaela die Situation erklären sollte. »Es war ein besonderer Fall. Einer, bei dem man bis zum Ende nicht begreift, worum es eigentlich geht. Und jetzt erst recht nicht mehr.« Sie schüttelte den Kopf und sah die junge Frau ungewohnt hilflos an: »Raffaela, würden Sie mit mir noch einen Kaffee trinken gehen?«
Sie saßen in einer hübschen Bar mit Blick auf den Fluss. Raffaela trank einen Sanbitter, leuchtend orange mit einer Scheibe Zitrone. Die Eiswürfel klirrten leise, wenn sie das Glas hob. Clara hatte einen doppelten Espresso vor sich stehen. Sie starrte die winzige Tasse an, als könnte sie ihr weiterhelfen, sie herausziehen aus dieser Wolke oder ihr nur wenigstens ein paar ihrer drängendsten Fragen beantworten.
»Wie alt sind sie?«, fragte sie die junge Frau.
Raffaela lächelte. »Zweiundzwanzig. Ich studiere hier, die Arbeit bei Terra materna mache ich ehrenamtlich.«
»Ist es wirklich so schlimm mit den Abschiebungen aus Deutschland?«, wollte Clara wissen.
»Was heißt schlimm?« Raffaela nahm einen Eiswürfel aus ihrem Glas und steckte ihn sich in den Mund. »Ist es schlimm, wenn man junge, drogensüchtige Männer mit nichts als einer Fahrkarte in der Hand in den Zug setzt und in ein Land schickt, das sie höchstens vom Urlaub her kennen und dessen Sprache sie oft gar nicht richtig sprechen?« Raffaela hob den Kopf und sah Clara an: »Ist es schlimm, wenn man einen alten Mann, der seine Frau erschlagen hat, nach den zehn abgesessenen Jahren Gefängnis in ein Flugzeug nach Mailand setzt, obwohl er eigentlich aus Sardinien stammt, dort seit über dreißig Jahren nicht mehr war und nicht einmal weiß, wie man ein Handy bedient und dass man in Italien jetzt mit Euro bezahlt?« Raffaela zuckte mit den Schultern. »Viele bei uns sagen, die haben es doch nicht anders verdient. Wer nichts auf dem Kerbholz hat, dem passiert so etwas nicht. Mag sein, dass sie recht haben auf ihre beschissene theoretische Art und Weise. Aber wenn man hier arbeitet, sieht man die Dinge anders.« Sie zerbiss den Eiswürfel und versank in Schweigen.
Clara rührte in ihrer Tasse und betrachtete den hellgrün schäumenden Fluss, der vor ihnen vorbeifloss. Sie dachte an Richter Oberstein mit seinem selbstgefälligen Grinsen, der jetzt, nachdem die Gefahr vorüber schien, wieder ungestört Recht sprechen konnte. Sie sah Karl Killesreiters gallenbitteres Gesicht vor sich und die karrieresüchtigen Augen von Frau Kollegin Bloch-Stiegler und seufzte. Es war zu oft nicht genug, was man tat. Was man tun konnte . Und dass es so war, musste man irgendwie aushalten lernen. Es würde zu nichts führen, wenn sie versuchte, die Dinge zu erklären, die passiert waren, wenn sie versuchte zu erklären, dass es entgegen aller äußerlicher Anzeichen ein Mord gewesen war und dass sie den Mörder sogar kannte. Sie trank ihren Kaffee aus und sah auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Um sechs ging ein Zug zurück nach München. »Wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte sie.
»Wir werden die Polizei in seiner Heimatgemeinde benachrichtigen, sie werden dann die Angehörigen informieren.«
»Wird es eine Untersuchung geben? Wegen der Todesursache?«
Raffaela schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der erste Drogentote hier in Bozen in diesem Jahr, und es wird auch nicht der letzte sein.«
Erst als die Stadt schon längst im abendlichen Dunst hinter ihr zurückgeblieben war und sie wieder in den düsteren Nebel eintauchten, der den Brennerpass wie eine bösartige Wolke umgab, nahm Clara den kleinen Beutel aus ihrer Tasche, den Dr. Azzarà ihr gegeben hatte. Sie schüttelte den Inhalt in ihre Hand. Die Kette war aus dünnem, billigem
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