Das Gesetz Der Woelfe
ihr Kinn und sah Mimmo an: »Wollen Sie nicht endlich ein Foto schießen?«
Die Chance, irgendetwas richtig zu machen, war vertan. Mimmo hatte zu lange gewartet. Es war vorbei. Er hatte versagt. Langsam, wie in Trance hob er seine Digitalkamera und richtete sie auf die beiden Jugendlichen vor ihm. Der Blitz war kaum zu sehen, als er abdrückte, doch ihm war bewusst, dass in dem Moment alle Augen der Menschen hinter ihm auf ihn gerichtet waren. Er drückte noch einmal auf den Auslöser, und auf einmal war ihm so, als würde irgendwo in seinem Kopf jemand eine Weiche umstellen, als würde seine Angst eine Kurve nehmen und ihn allein weiterfahren lassen, in einer Achterbahn ohne Bremse. Er drehte sich um und knipste in die Menge, einmal, zweimal, dreimal. Die Menschen wichen zurück, als ginge er mit einer Schlange auf sie los. Sie drehten die Köpfe weg, ein paar duckten sich unter den anderen durch und liefen weg, weiter in das schützende Dunkel. Mimmo begann zu lachen, er lachte laut, und seine Stimme kippte dabei. Er lief ihnen hinterher, lachend und unentwegt knipsend. Er fotografierte die Furcht in ihren Gesichtern, die zur Abwehr erhobenen Hände, und lachte, bis ihm die Tränen kamen und der Rotz aus seiner Nase lief. Flink wie selten zuvor holte er auch diejenigen ein, die sich leise davonstehlen wollten, und drückte in dem Moment ab, als sie sich erschrocken nach ihm umdrehten. Er knipste, bis sich die Menge verlaufen hatte, bannte die leere Piazza, das Rathaus, die Dunkelheit auf seine Kamera. Er drehte sich lachend und weinend im Kreis, das Blitzlicht zuckte in unregelmäßigen Abständen dem Nachthimmel entgegen. Dann lief er stolpernd und schluchzend davon.
Sobald ihn der Schatten der Gasse unterhalb der Piazza verschluckt hatte, verstummte Mimmo. Sein Gesicht gefror zu einer bleichen, unförmigen Maske. Schwer atmend stützte er sich mit einer Hand an der feuchten Mauer ab, von der der Putz abbröckelte und an seinen Fingern kleben blieb. Dann begann er langsam den steilen Abstieg. Unten glänzte sein silbergrauer Lancia im Licht der Straßenlaterne. Mühsam stieg er ein. Vertrauter Geruch umgab ihn, das beruhigende Geräusch des Motors, als er den Wagen startete. Er schaltete das Radio ein. Der Moderator plapperte sinnloses Zeug, als wäre nichts geschehen, als wäre alles noch wie vorher. Doch Mimmo ließ sich nicht täuschen. Nichts würde mehr wie früher sein. Er fuhr hinunter in das kleine Industriegebiet von San Sebastiano. Hinter der ausgebrannten Ruine einer ehemaligen Nudelfabrik parkte er sein Auto. Die Ruine stand schon seit Jahren hier. Niemand hatte sich je zuständig gefühlt, sie zu beseitigen. Die rostigen Pfeiler, die das Feuer übrig gelassen hatte, ragten wie moderne Skulpturen aus den zusammengesunkenen, verschmorten Resten des Gebäudes, das bereits von dickem, dunkelgrünem Elefantengras und allerlei Unkraut überwuchert wurde. Mimmo warf einen Blick hinaus in die mondlose Nacht. Kein Mensch, kein Auto war zu sehen.
Er drehte das Radio ab und holte die Pistole hervor. Tückisch und tröstlich zugleich lag sie in seiner Hand. Der Geruch von wilder Minze drang durch das Fenster, und die Zikaden sangen. Mimmo richtete sich ein wenig auf und steckte sich den Lauf in den Mund. Dann drückte er ab, ohne noch einmal zu zögern.
Sergente Michele Barbabietola verfluchte seinen Chef und noch mehr seinen Kollegen Zampiero, der ausgerechnet heute auf Fortbildung sein musste. Jetzt musste er hinauf in dieses gottverlassene Nest, das schon mehr Verbrecher hervorgebracht hatte, als Corleone in Sizilien, und der Mutter die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbringen. Noch dazu allein. Warum war er nicht für den Selbstmord hinter der Nudelfabrik heute Nacht eingeteilt? Klare Sache. Ein Journalist hatte sich den Kopf weggeschossen. Limpi und Rinaldi waren dort. Die Glücklichen. Und er musste hinauf in dieses gottverdammte Dorf. Ein Sumpf war das dort oben, ein weißer Fleck auf der Landkarte, und so sollte man es auch behandeln. Sein Kollege Zampiero hatte schon recht, wenn er sagte, das Beste wäre, eine Mauer und Stacheldraht drumherum und fertig. Barbabietolas Auto verließ den Parkplatz der Questura, fuhr zügig die Hauptstraße entlang, an den gesichtslosen Wohnblöcken vorbei und bog dann ab, hinauf in die Altstadt. Er passierte den Rathausplatz, ohne auf die übrig gebliebenen Stände und Reste des Feuers zu achten, und schraubte sich die engen Gassen hinauf, hupend und
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