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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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doch er fürchtete sich davor, einen Fehler zu machen. Ein Arzt, der einen Fehler machte, war schlimm genug, wenn es auch nicht immer zu vermeiden war. Aber ein Arzt, der einen Fehler machte, weil er zu alt war, das war unverzeihlich. Also hatte er vor sechs Jahren seine Praxis an einen jüngeren Kollegen verkauft, den er ab und zu noch bei seinem täglichen Rundgang besuchte. Sie mochten sich, und trotz der vielen Zeit, die Isotti plötzlich übrig hatte und von der er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, hatte er diesen Schritt nicht bereut. Manchmal war er sogar ein wenig erleichtert.
    Damals vor sechs Jahren hatte er seine täglichen Besuche auf dem Friedhof begonnen. Seine Frau war zwar schon drei Jahre vorher gestorben, doch bis dahin hatte er einfach zu viel zu tun gehabt, um sie jeden Tag zu besuchen. Doch jetzt genoss er diesen Spaziergang, der ihn durch die ganze Altstadt führte, über den Rathausplatz, die schmalen Stufen hinter der Bäckerei hinauf, vorbei an seiner alten Praxis, ein Schwätzchen mit dem Apotheker und mit Fabrizio vom Zeitungskiosk. Dort rauchte er auch immer eine Zigarette, bevor er das steile Gässchen zum Friedhof hinaufging. Auf dem Rückweg, so gegen halb zwei, macht er immer Pause in der Bar am Rathaus und aß einen Teller Suppe oder Pasta und trank dazu ein Gläschen Weißwein.
    Der Wein stammte aus seiner Heimat, dem Veneto, und Vittorio, der Wirt, hatte ihn extra seinetwegen ins Sortiment genommen. Vittorio war ihm dankbar, weil er ihn einmal erfolgreich wegen eines Prostataleidens behandelt hatte, und freute sich jedes Mal, wenn er vorbeischaute.
    Überhaupt konnte Dott. Isotti wenig Nachteiliges über die Menschen hier sagen. Keine der Warnungen und wenige der Vorurteile seiner Freunde und Verwandten aus Treviso hatten sich bestätigt. Man hatte ihn gut aufgenommen, als er vor dreiundfünfzig Jahren hierhergezogen war. Vielleicht lag es daran, dass er Arzt war, noch dazu damals der Einzige, oder aber es lag daran, dass die Leute seine Liebe zu Carmela Passavanti, die damals erst siebzehn Jahre alt gewesen war, zu romantisch gefunden hatten, um ihm, dem Mann aus dem reichen Norden, das Leben schwer zu machen.
    Natürlich gab es eine Menge Dinge, die im Argen lagen in San Sebastiano, und Dott. Isotti wusste sehr genau darüber Bescheid, obwohl er persönlich nie in irgendetwas verwickelt worden war. Manchmal war es durchaus von Vorteil, einen Beruf zu haben, der allen Menschen, den Guten ebenso wie den Verbrechern, nützlich war. Er hatte sich stets bemüht, in jedem, der zu ihm kam, nur den Patienten zu sehen und ihm zu helfen, wenn er konnte. Denn es war immer seine Überzeugung gewesen, sein Eid als Arzt verlange das von ihm. Doch heute, als ihm die Signora Cecci, die Hausmeisterin, erzählt hatte, was sich gestern Nacht auf der Piazza beim Fest der Strega zugetragen hatte, und er jetzt an dem wackligen Stand des jungen de Caprisi vorbeikam und die Bilder sah, kamen ihm plötzlich Zweifel, ob er tatsächlich immer recht gehandelt hatte. Er blieb stehen, auf seinen Stock gestützt und überlegte. Nachdenklich musterte er den Jungen, der dort mit müden Augen und entschlossenem Gesichtsausdruck stand. Er ging ein paar Schritte auf den Jungen zu und zog dann langsam und würdevoll seinen Hut vor ihm.
    Der Junge sah ihn mit großen Augen an, dann sagte er leise: »Grazie, Dottore.«
    Dott. Isotti, der die Geschichte der Familie de Caprisi wie jeder hier in San Sebastiano kannte, schämte sich. Hastig setzte er seinen Hut wieder auf, nickte und ging weiter. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Der Apotheker und Fabrizio vom Zeitungskiosk würden heute noch eine Weile warten müssen. Er nahm ausnahmsweise die große Straße hinauf zum Dom, um schneller oben zu sein. Carmela würde Rat wissen. Wenn er mit ihr sprach, würde er wissen, was zu tun sei. So war es immer gewesen. Doch bereits in dem Moment, als er den Friedhof betrat, wusste er, dass er es tun würde. Er brauchte keinen Rat mehr von Carmela, sondern jetzt freute er sich, ihr seinen Entschluss mitzuteilen: Nach seinem Besuch bei ihr und dem Mittagessen bei Vittorio würde er diesen bitten, ihm einen Stuhl zu leihen, und dann würde er hinuntergehen und sich zu diesem Jungen setzen. Er hatte wenig Heroisches in seinem Leben getan, und vielleicht war dies auch keine besonders heldenhafte Tat, denn er war alt und allein und hatte nicht mehr viel vor sich. Und doch war er glücklich darüber, diese Entscheidung getroffen

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