Das Gesetz Der Woelfe
fluchen.
»Hunger, ja, ja.« Clara stand auf und komplimentierte Erwin Reisinger freundlich, aber bestimmt zur Tür hinaus. Im Gehen steckte sie ihm noch zwei Euro fünfzig zu. Das würde gerade noch für eine Halbe Bier reichen. »Komm morgen früh wieder.«
Erwin schob hastig das Geld in die Tasche und nickte. Mit wiegenden Schritten, so schnell sein ramponierter Körper es ihm gestattete, beeilte er sich, seine letzte Tröstung für heute in Empfang zu nehmen.
Clara schloss aufatmend die Tür und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. So viel Arbeit wartete noch auf sie. Rechnungen wollten geschrieben werden, und die Fristen für zahlreiche Schriftsätze, die sie noch zu machen hatte, schoben sich schon wieder auf einen erschreckend kurzen Zeitraum zusammen.
Sie packte ein paar der dringendsten Akten in ihre Tasche und knipste das Licht aus. Linda war schon vor über einer Stunde gegangen, und Willi hatte sie heute Nachmittag gar nicht gesehen. Sie hatte Hunger und sehnte sich nach ihrer Couch und einem Krimi. Elise sprang freudig auf, als Clara ihren Stuhl zurückschob. Sie hatte den Teil des Nachmittags, den Clara hinter ihrem Schreibtisch gesessen hatte, in einem Zustand verbracht, den Clara als Bürolähmung zu bezeichnen pflegte. Kaum lag Elise hinter Claras Schreibtischstuhl auf ihrem großen, zerfledderten Kissen, erschlaffte sie vollkommen und verfiel in eine Art resignierte Apathie, aus der sie nur der Hinweis auf einen Spaziergang oder aber - noch besser - eines von Ritas Croissants erwecken konnte. Clara schlüpfte in ihren grünen Wollmantel und machte sich mit Elise zu Fuß auf den Weg in ihre Wohnung. Nach dem Gefängnistrip von heute Morgen konnte sie gar nicht genug Frischluft bekommen.
Der Abend war klar und warm für März. Schritt für Schritt fühlte Clara, wie die Anspannung des Tages von ihr wich. Die Gefängnismauern, die ihr Herz wie ein Schraubstock umschlossen hatten, verschwanden endgültig, und Clara empfand wieder Raum und Platz und Freiheit. Die sanfte Luft, die bereits in den Farben des Frühlings roch, nach hellem Grün und saftigem, erdigem Braun, drang in all ihre Poren und wusch die klebrige Computerluft und den Papierstaub einfach weg in die Isar. Elise amüsierte sich eine ganze Weile königlich mit einem Zwergpudelrüden, den sie mit einem Tatzenhieb in einen Flokati hätte verwandeln können. Doch sie, ganz Lady, sah nonchalant über den Größenunterschied hinweg und ließ sich von dem Zwerg gönnerhaft anbaggern. Ab und zu warf sie Clara einen amüsierten Blick zu, den Clara augenzwinkernd erwiderte. Männer!, besagte dieser Blick, und dem konnte Clara nur aus vollem Herzen zustimmen. Sie wünschte sich plötzlich, sie hätte in Bezug auf die menschlichen Vertreter dieser Spezies denselben gelassenen Humor.
Als Clara in ihre Wohnung trat, galt ihr erster Blick dem Anrufbeantworter. Er blinkte. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr, und sie ließ Mantel und Hundeleine einfach auf den Boden fallen. Es war tatsächlich Sean, der angerufen hatte: »Hi, Mum, mir geht es gut, was macht Elise, schaff dir doch endlich ein Handy an, viele Grüße von Ian.« Klack.
Clara blieb noch eine ganze Weile vor dem kleinen Apparat stehen und starrte auf die neonrote Eins, die Seans Anruf signalisierte. Er lebte, es ging ihm gut, er verstand sich gut mit seinem Vater, lernte die große weite Welt kennen … na ja, zumindest die Stadt, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Was wollte eine Mutter mehr? Clara verzog das Gesicht und erinnerte sich an einen der zahlreichen Ratgeber, die sie am Anfang, ganz am Anfang, noch gelesen hatte. »Loslassen!« hatte der kategorische Imperativ geheißen. »Loslassen, wenn Ihr Baby nachts allein schlafen soll, loslassen, wenn es in den Kindergarten kommt, loslassen, loslassen.« Das ganze Loslassen hatte ihr nichts geholfen. Oder sie hatte es nicht richtig gemacht. Jedenfalls fehlte ihr Sean, und sie wollte nicht loslassen. Auf keinen Fall. Sie war noch nicht bereit dafür, verdammt noch mal! Bei manchen dauerte es eben länger, und interessierte sich überhaupt jemand für die Schmerzen der Mutter, wenn der Sohn, fast noch ein Kind, tausend Meilen wegfuhr, zu einem Vater, den er kaum kannte und der … der … jedenfalls nicht zuverlässig genug gewesen war, ein Kind aufzuziehen? Ein Musiker, Künstler! Natürlich . Sie atmete schwer. Ein Tagträumer, ein Säufer, ein hemmungsloser Egoist. Sie stampfte zur Bekräftigung
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