Das Gesetz Der Woelfe
und wanderte hinunter in den unteren Raum, der nur durch ein paar Stufen von seinem Arbeitsplatz getrennt war, und blieb an Linda haften. Sollte er sie bitten, endlich einmal Ordnung in seine umfangreiche Bibliothek zu bringen? Es tat ihm jetzt schon weh, daran zu denken, wie eine fremde Person seine Bücher nach irgendeinem Schema F sortierte und er sich dann an diese Ordnung zu halten hatte. Es würde ohnehin nicht funktionieren. Er selbst hatte es schon mehrmals versucht. Hatte sie nach dem Alphabet, den Autoren, den Rechtsgebieten und einmal sogar nach der Größe sortiert. Alles umsonst. Wenn es um seine Bücher ging, war er nicht in der Lage, sich an eine vorgegebene Ordnung zu halten, weder an die eigene, noch an die eines anderen. Die Reihenfolge seiner Bücher folgte nichts anderem als seinen Gedankengängen, und da diese mitunter recht unkonventionelle Wege gingen, konnte man nicht erwarten, dass die Bücher immer brav an einer Stelle blieben. Willis rechtliche Interessen waren weit gefächert, und er hatte eine Vorliebe für exotische Rechtsgebiete. Im Augenblick beschäftigte er sich mit einem Fall von zwei Schrebergärtnern, die erbittert um die Anbringung eines Fahnenmastes kämpften. Dafür benötigte er den Kommentar zur Bayerischen Kleingartenverordnung, der jedoch spurlos verschwunden zu sein schien. Willi schielte misstrauisch zu Claras Schreibtisch. Ihre in Willis Augen erschreckend banale Literatursammlung passte auf ein Regalbrett hinter ihrem Stuhl an der Wand und umfasste nicht viel mehr als die Standardwerke. Die Kleingartenverordnung war darunter nicht zu finden. Auf Claras Schreibtisch hingegen türmten sich Akten, dazwischen hingen lose Zettel heraus, und Notizen auf gelben Leuchtstreifen mahnten drohend den Ablauf irgendeiner Schriftsatzfrist. Gekrönt wurden die Stapel von einer leeren Kaffeetasse. Willi sah auf die Uhr. Clara sollte längst wieder im Büro sein. Sie war nach der Mittagspause aufgebrochen, um einen Zeugen in der Sache Malafonte zu befragen, und hatte ihm Elise dagelassen, die auf ihrer Matratze hinter Claras Schreibtisch lag und zufrieden auf irgendetwas herumkaute. Jetzt war es fast fünf Uhr, und Clara war noch nicht zurück. Er fragte Linda, ob sie sich zwischenzeitlich gemeldet habe, doch Linda schüttelte den Kopf und bedachte Willi mit einem ihrer intensiven Blicke.
Vielleicht sollte er doch einmal mit ihr ausgehen, überlegte er nicht zum ersten Mal. Linda war ausnehmend hübsch, recht clever und tüchtig. Außerdem schien sie auf so etwas wie eine Verabredung mit Willi zu warten, jedenfalls kam es ihm so vor. Jedes Mal, wenn er gleichzeitig mit ihr Feierabend machte, beschäftigte sie sich aufreizend lange mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten auf ihrem Schreibtisch, rückte den Locher und die Stifte hin und her und kontrollierte immer wieder, ob auch der Kopierer ausgeschaltet war. Sie versuchte, mit ihm zusammen die Kanzlei zu verlassen und ihn in Gespräche über Kinofilme oder irgendein neues Lokal in der Innenstadt zu verwickeln. Er war noch nie darauf eingegangen und wusste selbst nicht richtig, warum. Er hatte nie wirklich Lust verspürt, mit Linda ins Kino zu gehen. Lieber saß er mit Clara an der Theke im Murphy’s oder blieb zuhause in seinem winzigen, altmodischen Apartment am Englischen Garten. Ein Zimmer, Wohnküche, Bad, eine kleine Terrasse. Längst hätte er sich etwas Größeres und Modernes leisten können, aber er war überzeugt davon, in der Stadt nichts Vergleichbares finden zu können: Wenn er das Fenster öffnete, war nichts anderes zu hören als der Schwabinger Bach und morgens Vogelgezwitscher. Neben ihm wohnte eine neunzigjährige Dame, die früher Balletttänzerin gewesen war und jetzt noch immer würdevoll und in wehenden Kleidern am Stock ging. Sie lud ihn ab und zu zum Teetrinken ein und zeigte ihm Bilder aus längst vergangenen Zeiten, als sie ein graziles, zerbrechliches Geschöpf gewesen war, mit großen Rehaugen wie Audrey Hepburn, spitzen Schultern, und einem ernsten Gesicht. Sein Schlafzimmer war zugleich Bibliothek, und in den Regalen stapelten sich zweireihig Romane, Sachbücher, Bildbände, alles, nur keine Rechtswissenschaft. Die Arbeit nahm er nie mit nach Hause. Grundsätzlich nicht. Auch Clara hatte er noch nie zu sich nach Hause eingeladen, obwohl er sich das wiederum schon sehr oft vorgenommen hatte. Seine Scheu davor, irgendetwas in ihrer harmonischen »Nicht-Beziehung« zu zerstören, war jedoch noch größer als
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