Das Gesetz Der Woelfe
öffnete ihr galant das Tor. Sie gab ihm ihre Visitenkarte: »Falls Max es sich noch anders überlegt.« Simoneit schob das Kärtchen in seine Hosentasche und nickte unverbindlich. »Grüßen Sie mir Ihre Eltern«, meinte er zum Abschied, dann ging er zurück zum Haus. Der Kies knirschte leise unter seinen weichen Sohlen. Clara starrte ihm verblüfft nach. Mit keinem Blick, keiner Geste hatte er zu erkennen gegeben, dass er sie kannte.
In Gedanken versunken ging Clara die stille Straße zurück zur U-Bahn. Abwesend strich sie über die samtigen Blätter der Blüte in ihren Händen. Die Dinge, die sie gehört hatte, lagen wie ein zäher, dicker Klumpen in ihrem Magen. Sie konnte damit nichts anfangen. Es war wie das unvermittelte Eintreten in eine fremde Welt gewesen, in der eine fremde Sprache gesprochen wurde. Und doch war es nicht so. Alles passierte hier, in München, in ihrer Stadt und vor ihren Augen, und sie musste sich damit befassen. Ob sie wollte oder nicht. Sie musste Angelo dazu bringen, ihr zu sagen, was der Grund dafür war, dass Barletta nach ihm suchte. Ihre Theorie von dem betrogenen Ehemann hatte sich nach dem Besuch bei Moro in nichts aufgelöst. Es steckte etwas anderes dahinter. Etwas ungleich Bedrohlicheres.
Clara seufzte und stieg die Treppen hinunter zum Bahnsteig. Warum konnte sie sich nicht einfach darauf beschränken, dem jungen Italiener zu einer möglichst niedrigen Strafe zu verhelfen, und alles andere beiseiteschieben? Andere würden das tun. Sie würden sich auf ihren Job konzentrieren und nicht gleichzeitig versuchen, die Welt zu retten. Sie war nicht verantwortlich für das, was Malafonte womöglich in Italien angestellt hatte. Sie würde auch Richter Oberstein höchstwahrscheinlich nicht aus seinem Amt vertreiben können, und die Politik würde so bleiben, wie sie war. Mit und ohne Clara Niklas.
Die U-Bahn war fast leer, als sie in den Bahnhof einfuhr, und Clara atmete auf. Bis zum Odeonsplatz würde sie wenigstens genug Luft zum Atmen haben. Sie setzte sich auf eine Bank ganz am Ende des Waggons mit dem Rücken zur Wand. Während sie blicklos die schwarzen Tunnelwände hinter der schmutzigen Scheibe vorüberziehen sah und versuchte zu vergessen, wie viele Tonnen Erde, Stahl und Beton sich über ihr bis zur Oberfläche auftürmten, wurde ihr klar, dass sie es niemals über sich bringen würde, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Solange noch die Möglichkeit bestand, irgendetwas zu bewegen, würde sie nicht lockerlassen. Sie konnte nicht anders. Sie hatte es noch nie gekonnt. Weltverbesserin nannten ihre Eltern sie früher, wenn sie wieder einmal die Schule schwänzte, um gegen irgendetwas zu demonstrieren oder einen Verweis für ungebührliches oder aufmüpfiges Betragen mit nach Hause brachte. Und während es bei ihrer Mutter immer liebevollbesorgt klang, hatte ihr Vater für solche Flausen nur Verachtung übrig. Schon die Achtundsechziger waren für ihn nur hoffnungslose Träumer und Spinner gewesen, dass aber seine jüngste Tochter Jahre später ohne Not den Aufstand probte, war ihm schier unbegreiflich und ein ständiger Dorn im Auge.
Die U-Bahn fuhr in den Bahnhof Odeonsplatz ein. Hier musste Clara umsteigen. Während sie die Rolltreppe zu ihrem Bahnsteig betrat, versuchte sie, sich für die Menschenmassen, die sie auf dieser Linie erwarten würden, innerlich zu wappnen. Heute war es besonders schlimm, das sah sie schon von weitem, als sie sich dem Bahnsteig näherte. Trauben von Touristen sammelten sich bereits vor dem einfahrenden Zug. Sie lief an ihnen vorbei, um ein paar Waggons weiter hinten einzusteigen, doch vergeblich. Der ganze Bahnsteig war voll mit Menschen. Sie warf einen Blick auf die Uhr und war kurzzeitig versucht, einen späteren Zug zu nehmen, verwarf jedoch den Gedanken. Sie hatte sich vorgenommen, ihrer Angst nicht mehr auszuweichen, also würde sie in diesen Zug einsteigen. Mit halb geschlossenen Augen ließ sie sich von der schiebenden und drückenden Menge durch die geöffneten Türen lotsen, machte sich so gefühl- und widerstandslos wie möglich. Wie Wasser, dachte sie bei sich, ein Gedanke, der ihr schon oft über Schlimmeres hinweggeholfen hatte. »Du bist wie Wasser. Du passt dich an, fließt einfach weiter, wohin der Lauf dich führt.« Sie blieb gleich neben der Tür stehen, das Gesicht zur Wand, und ließ die anderen weiterdrängeln. In dieser Ecke fiel sie am wenigsten auf, blieb ihr am meisten Platz, das wusste sie aus
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