Das Gesetz Der Woelfe
lange, bis es glänzte. Sie blieb noch eine ganze Weile in der stillen Küche sitzen. Nachdenklich drehte sie die Dose in ihren Händen, strich über die verbeulten, abgestoßenen Ecken und schüttelte sie. Die trockenen Teereste klangen wie Reiskörner. Irgendwann drangen morgendliche Geräusche durch das Fenster. Berufsverkehr, Lieferwagen für die Bäckerei und den Gemüseladen unten an der Ecke. Sie hörte das Schlagen der Autotüren, hastige Schritte, das Bellen eines Hundes. Endlich stand sie auf und ging zurück in ihr Bett.
Trotz der unruhigen Nacht war Clara an diesem Morgen die Erste im Büro. Das Wetter war wie erwartet umgeschlagen, und ein eisiger Wind trieb den Regen durch die Straßen. Clara wollte mit der U-Bahn fahren, brachte es aber dann im letzten Augenblick doch nicht über sich. Bei der Erinnerung an ihre gestrige Fahrt brach ihr trotz der Kälte der Schweiß aus, und sie begann sich zu fragen, ob sie wohl je wieder einen Fuß in eine U-Bahn setzen würde. Aber irgendwie würde sie es schaffen. Wenn auch nicht heute. Sie war nicht bereit, sich von diesem abscheulichen Menschen derart einschränken zu lassen. Denn das würde bedeuten, er habe gewonnen, und Clara wollte nicht, dass er gewann. Auf gar keinen Fall. Sie war sich sicher, dass es Gaetano Barletta gewesen war. Er hatte, kurz bevor der Zug hielt, italienisch in ihr Ohr geflüstert, so dicht, dass Clara seine Lippen spüren konnte und den warmen Atem. Es waren nur drei Wörter gewesen, doch die Drohung, die darin lag, war deutlich gewesen: A presto, avvocatessa , hatte er gesagt, leise, fast sanft: Bis bald, Frau Rechtsanwältin , wobei er die im Italienischen eher unübliche weibliche Berufsbezeichnung in einer Weise betont hatte, dass es Clara die Schamröte ins Gesicht trieb, wenn sie nur daran dachte. Er kannte sie gut. Er hatte geahnt, dass sie nicht schreien würde, dass sie sich nicht einmal bewegen würde. Clara schloss für einen Moment die Augen, dann wandte sie sich von der Rolltreppe zur U-Bahn-Station ab und beschloss, trotz des Regens zu Fuß zu gehen.
Im Büro schaltete sie alle Lampen ein, um die Düsternis vor den großen Fenstern in Schach zu halten. Sie hatte im Grunde nichts gegen stürmisches Wetter, im Gegenteil, manchmal genoss sie es sogar. Aber es gab eine ganz spezielle Art von Regenwetter, das sie verabscheute. Wenn die schiefergrauen Wolken so tief über den Dächern hingen, dass es morgens nicht richtig hell wurde und man beim Licht der Küchenlampe frühstücken musste. Dann lag eine drückende Schwere über der Stadt, die sie schwermütig werden ließ, sogar wenn ihr Nervenkostüm weit weniger angeschlagen war als im Moment. Heute jedenfalls konnten die Lichter ihre Stimmung nicht ein bisschen aufhellen. Sie sah auf die Uhr. Es würde mindestens noch eine Stunde dauern, bis Willi ins Büro kam. Und dann blieb ihnen höchstens eine weitere Stunde, bis Linda um halb zehn mit ihrem Arbeitstag begann. Clara drückte der gestrige Streit mit Willi schwer auf den Magen. Sie wusste, dass sie ihm unrecht getan hatte, und hätte es am liebsten ungeschehen gemacht. Lustlos öffnete sie eine der oberen Akten, um sie gleich wieder zuzuklappen. Dann fuhr sie ihren Computer hoch und klickte sich durch die E-Mails, ohne sie wirklich zu lesen. Zwei Minuten später stand sie auf und zog den Mantel vom Haken. Sie würde mit Elise noch eine halbe Stunde spazieren gehen. Die Dogge schien nur mäßig erfreut und warf einen vorwurfsvollen Blick durch die Scheibe nach draußen und zurück zu Clara, als wollte sie sagen: »Hast du keine Augen im Kopf? So etwas nennt man bei euch ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt.« Doch Clara beachtete ihren stummen Einwand nicht. Sie kramte aus ihrer Tasche die Teedose hervor, die sie heute Morgen aus dem Müll gerettet hatte, und stellte sie Willi auf den Schreibtisch. Dann ließ sie die Leine an Elises Halsband einschnappen und ging mit dem widerstrebenden Hund im Schlepptau, der sich mit eingezogenem Kopf und Schwanz mehr ziehen ließ, als selbst zu gehen, wieder hinaus in den unfreundlichen Morgen.
Als sie nach einer guten Dreiviertelstunde zurückkam, waren sie und Elise trotz des Schirms klatschnass, und Claras Haare würden sich im Laufe der nächsten halben Stunde unweigerlich zu einer wischmoppähnlichen Krause ringeln. Aber ihr Gesicht hatte wieder eine frischere Farbe, und ihr Kopf fühlte sich angenehm freigepustet an. Sie sah schon von weitem Willis
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